Christine Tauber über Gegenporträts Napoleons

Ausschnitt aus einem Gemälde. Ein Mann in einer prächtigen schwarzen Uniform und einer großen, schwarzen, zylindrischen Pelzmütze hält sich am Zaumzeug seines weißen Pferdes fest.

PARISER TROUVAILLE NR. 6

Jacques-Louis Davids Napoleon überquert den großen Sankt Bernhard am 20. Mai 1800 (Abb. 1) war eine in der Pose des siegreichen Bezwingers einer erhabenen Gebirgswelt eingefrorene Ikone der Macht. Die große Pathosfigur aus sich aufbäumendem, dicht am Abgrund fest auf dem schräg ansteigenden Felsen stehenden Pferd und unbeugsam zur Passhöhe weisendem Reiter gerinnt hier zum wirkmächtigen Emblem, die Figur wird selbst zu einer Art Naturereignis.

Zugleich schreibt sich der Porträtierte ein in eine ruhmreicher nicht denkbare Genealogie von Alpenüberwindern seit der Antike. Für alle Zeiten in den Fels gegraben und damit dauerhaft legitimiert steht dort für die Zukunft gut lesbar: „Hannibal“, „Karolus Magnus“ und darüber, als Krönung, „Bonaparte“. Durch die pointiert realistische Malweise wirken Pferd und Reiter wie eine Erscheinung in der deutlich flockiger gegebenen Eiseskälte, eine Vision, die nur der Betrachter hat, nicht die sich mühsam bergan schleppenden Truppen. Dieser vom strahlend roten Umhang wie von einer Gloriole königsgleich umfangene Reiter spürt nichts von der Kälte. Er trägt bereits im Vorgriff die Uniform, in der er (oder besser: seine Truppen) am 14. Juni 1800 in der Schlacht bei Marengo den entscheidenden Sieg über Österreich erringen wird. In höchst unwahrscheinlicher Pose dominiert er seinen sich aufbäumenden Hengst allein durch den Willen. Napoleon ist zu einer Allegorie des Heroismus erstarrt, in der Momentaufnahme entzeitlicht und verewigt, aber mit zukunftsweisendem Fingerzeig. Für Norman Bryson inkarniert dieses Porträt ein Männlichkeitsmodell und -ideal, in dem der gesamte Körper „phallicized“ ist (Géricault and „Masculinity“, in: Visual Culture. Images and Interpretations, hg. v. dems., Hanover 1994, S. 228–259). Davids Napoleon als Alpenüberquerer demonstriert hypervirile Potenz, er ist erigiert bis in die Spitze des triumphierend erhobenen Zeigefingers.

An dieser Potenzgeste entzündete sich die in zahlreichen Gegenporträts vorgebrachte Kritik mit besonderer Sprengkraft. Théodore Géricaults vorgeblich so angriffslustiger Officier de chasseurs von 1812 (Abb. 2) ist nur eine der zahlreichen zynischen Repliken auf Davids Bild. Die anatomischen Unstimmigkeiten deuten jetzt nicht mehr auf die gottgleiche Überwindung der Schwerkraft durch einen aufs höchste angespannten Siegeswillen hin, sondern auf die Sinnlosigkeit des gesamten Unternehmens „Napoleonische Kriege“. Der Reiter ist bei Géricault nur vermeintlich im heroischen Gestus der Attacke gegeben, in Wahrheit hat er schon den Blick zurückgewendet ins Diffuse oder in sich selbst hinein – eine seltsame Brechung, die wohl erst im Salon von 1814 voll goutiert werden konnte. Die Aussichtslosigkeit des Kampfes ist hier Thema. Es gibt nur noch Chaos, keine geordnete Schlacht mehr. Ein solcher „Angriff“ eines allein mit einem Säbel Bewaffneten, der zudem aus dem Requisitenfundus der großen Oper zu stammen scheint, eines einzelnen, versprengten Reiters auf eine Kanone, wird als völlig sinnlos decouvriert. Das scheint der melancholisch zurück und damit in die Vergangenheit gewendete, nicht mehr auf den Sieg fokussierte Blick dieses tragischen Helden zum Ausdruck zu bringen.

Auch Paul Delaroches Bonaparte überquert den St.-Bernhard-Pass im Jahr 1800 (Abb. 3) ist ein Anti-David-Bild. Gebrochener könnte der Heroismus von dessen himmelstürmendem Welteneroberer in der ruhmreichen französischen Nationaltradition eines Charlemagne nicht sein. Das feurige Ross ist durch das historisch korrekte Maultier ersetzt, die Bewegungsrichtung invertiert. Der Blick des Reiters ist in der Fiktion undeutbar starr in eine vom Nachgeborenen Delaroche als gescheitert erkannte Zukunft aus dem Bild hinaus in die revolutionäre Realität der eigenen Gegenwart gerichtet: Das Bild entstand im Revolutionsjahr 1848.

Ein „Gegenporträt“ schon zu Lebzeiten ist das Reiterbildnis des Kaisers Napoleon I., das die Brüder Heinrich und Ferdinand Olivier im Auftrag von Herzog Franz von Anhalt-Dessau 1806/07 in Paris malten (Abb. 4; Klaus Heinrich Kohrs, Rez. Ausst.kat. Napoleon und Europa. Traum und Trauma, hg. v. Bénédicte Savoy, München 2010, in: Kunstchronik 64/7, 2011, S. 378ff.).

Beim David-Bild des furchtlosen Alpenüberquerers war alles unbeugsamer, vorwärtsstürmender Wille gewesen, den die Natur nicht aufzuhalten vermochte. Befremdlich anders stellt sich das Bild der Brüder Olivier dar, obgleich es sich doch unverkennbar auf Davids Vor-Bild bezieht. Vor bzw. über einem altertümelnden Drei-Gründe-Schema mit weitem Landschaftsausblick auf die Rheinlandschaft bei Oppenheim, die zugleich Weltlandschaft sein will, erscheint, wie ohne Bodenhaftung dahinstürmend, ein Reiter auf grellroter Schabracke. Überdimensional und wie holzgeschnitzt wirkt die nicht nach oben, sondern unheilvoll über das Land weisende Hand, und auch der Blick geht in dieselbe Richtung. Thomas W. Gaehtgens hat gezeigt, wie die Brüder Olivier unter der Hand den Wunsch ihres Landesherrn nach einem repräsentativen Napoleon-Porträt unterlaufen und dem Heros Züge eines apokalyptischen Reiters verleihen (Das nazarenische Napoleonbildnis der Brüder Olivier, in: Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, hg. v. Margit Kern/Thomas Kirchner/Hubertus Kohle, München/Berlin 2004, S. 296–312). Die vordergründig unverkennbaren Qualitätsunterschiede zwischen den beiden Reiterbildnissen lassen sich als ästhetisch-patriotisches Programm verstehen: Dem als oberflächlich und leer pathetisch diskreditierten Realismus der David-Schule werden hier altdeutsche Tugenden entgegengesetzt, wie man sie im Pariser Musée Napoléon von den geraubten Kunstwerken jenseits des Rheins ablesen konnte, allen voran Albrecht Altdorfers Alexanderschlacht.

Karikaturen spielen eine zentrale Rolle im Prozess öffentlicher Meinungsbildung. Sie äußern politische Kritik mit Hilfe eines hochdifferenziert entwickelten Bilddiskurses, der ein Gegendiskurs zu sein beansprucht gegen die Vereinnahmung der Bilder zu propagandistischen Zwecken (Claudia Hattendorff, Napoleon und die Bilder. System und Umriss bildgewordener Politik und politischen Bildgebrauchs, Petersberg 2012). Girodet, der Napoleon mindestens ebenso hasste und verachtete wie seinen Lehrer, den napoleonischen Hofmaler Jacques-Louis David, hat sich die Mühe gemacht, eine delikate Mehrphasen-Karikatur Napoleons in Bleistift und Kreide zu zeichnen (Abb. 5). Die Bildunterschrift entlarvt die Eitelkeit des Porträtierten und seine krampfhaft verhehlten Anstrengungen beim öffentlichen Self-Fashioning: „Bonaparte dormant au Spectacle à St. Cloud le 13 avril 1812. / S’Eveillant frappé de la pensée qu’on a pu le voir dormir. / Et s’efforçant de sourire en regardant la Scène.“ Karikaturen blühten vor allem im von Napoleon militärisch bedrohten Ausland: Die besonders heftig antinapoleonisch engagierten englischen Karikaturisten transformierten seinen Zug ins Exil nach Elba, aber auch die 100 Tage in einen Schandzug.

Einen Höhepunkt erreicht diese Verunglimpfung des kurzzeitigen Rückkehrers in dem anonymen kolorierten Stich Retour de l’ile d’Elbe, il ramene la liberté! vom März 1815 (Abb. 6): Napoleon wird hier vom Teufel und einer harlekinartigen Witzfigur auf einem störrischen apokalyptischen Tier mit „bonnet de la liberté“ herangeführt. Dieser zum Freiheitsesel mutierte David’sche Hengst scheißt Orden aus und ist von Napoleons Sporen und seinem rüden Riss am Zügel blutig geschunden. Der Reiter hat den Ausruf „Quel Triomphe“ auf den Lippen und führt hinter sich – in sarkastischer Abwandlung des berühmten Revolutionsdiktums „Liberté ou la mort“ – einen Sensenmann mit, der unmissverständlich illustriert, wohin die letzte Reise geht.

Das war die Pariser Trouvaille Nr. 6, Fortsetzung folgt…

Prof. Dr. CHRISTINE TAUBER ist die verantwortliche Redakteurin der Kunstchronik am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Professorin am Kunsthistorischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München.