Im französischen Exil befasste sich Walter Benjamin 1935 mit der technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken (Benjamin 1936). Diese führt, so der Autor, zum Verlust der „Aura“, der Einzigartigkeit eines Kunstwerkes, die mit dem „Hier und Jetzt“, mit seinem Ort und seiner Geschichte verbunden ist. Benjamin erkennt darin positive Aspekte, denn die Möglichkeit der massenhaften Vervielfältigung enthalte demokratisierende Elemente, mache ein Kunstwerk für alle zugänglich und gewähre die simultane, kollektive Betrachtung eines Gemäldes
Etwa zur gleichen Zeit sammelte der Kunsthistoriker Alfred Stange zahlreiche Fotografien zur sog. altdeutschen Malerei – Ende der 1960er-Jahre waren es über 30.000. Sie dienten ihm als Arbeitsgrundlage für sein elfbändiges Hauptwerk Deutsche Malerei der Gotik. Im Vorwort des ersten Bandes von 1934 postulierte der Autor, er wolle „der Weltgeltung der deutschen Kunst damit einen Dienst […] erweisen“ (Stange 1934–1961). Seine Fotos gelangten mit zwei weiteren fotografischen Nachlässen in das Zentralinstitut für Kunstgeschichte.


Forscher sammeln Fotos
Die Photothek des ZI umfasst die weltweit größte fotografische Studiensammlung zur sog. altdeutschen Malerei. Große Teile davon waren von drei Kunsthistorikern – Otto Benesch (1896–1964), Ernst Buchner (1892–1962) und Alfred Stange (1894–1968), deren Spezialisierung auf dem Gebiet der Malerei der Spätgotik und beginnenden Frühen Neuzeit lag – als ihre jeweils privaten Arbeits- und Forschungsapparate zusammengetragen worden. Das Konvolut dieser überwiegend monochromen Fotografien dokumentiert – mit dem Ziel größtmöglicher Vollständigkeit – den Werkbestand der „altdeutschen“ Malerei von der Jahrhundertwende bis in die Nachkriegszeit, also über fast 70 Jahre hinweg. Die Fotos zeigen zentraleuropäische Tafelmalerei in der Zeit von ca. 1250 bis 1550 aus dem heutigen Deutschland, Österreich, der Schweiz, aus Südtirol, Ungarn, Tschechien, Polen, Slowenien und dem Elsass.
Die Nachlässe wurden in den 1960er- und 80er-Jahren vom ZI teils übernommen, teils angekauft. Bei der Inventarisierung mit Herkunftsstempeln versehen, wurden sie im Wesentlichen in den Gesamtbestand der Photothek integriert, wodurch die ursprüngliche Ordnung verloren ging.


Kunsthistorische Kennerschaft stützte sich bis weit in das 20. Jahrhundert zu großen Teilen auf Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Damals maßgebliche Methoden der Kunstgeschichte wie die Stilgeschichte, die Ikonographie und die Ikonologie wurden anhand von Schwarz-Weiß-Reproduktionen entwickelt und sukzessive verfeinert. In Forschung und Lehre wie im Kunsthandel, im privaten Arbeitszimmer und in Museen boten sie die entscheidende Grundlage für Form- und Stilvergleiche, für Motivvariationen ebenso wie für „Händescheidungen“. Sie dienten als Gedächtnisstütze, als Lehr- und Argumentationsmittel oder sogar als Ersatz für das, was man selbst nie gesehen hat (Caraffa 2009). So unterlief Heinrich Wölfflin 1891 offenbar eine Fehleinschätzung, indem er anhand einer monochromen Reproduktion ein Frühwerk von Michelangelo, die „Madonna von Manchester“ (heute National Gallery London), zu den „Unächten Werken“ zählte (dazu Imorde in: Wölfflin 2020).
Heute ist der Zugriff auf qualitativ hochwertige Farb-Reproduktionen nicht zuletzt durch die Digitalisierung fast mühelos geworden. Daher stellt sich die Frage: Worin liegen Wert und epistemologisches Potenzial überlieferter analoger Fotosammlungen heute? Mehrere Perspektiven seien skizziert.
Fragmentierung und Dislozierung
Zur „altdeutschen“ Kunst gehört neben namhaften Malern ein beträchtlicher Anteil anonymer Künstler, auch Werkstattgruppen, zumeist als „Meister mit Notnamen“ gekennzeichnet, deren teils monumentale Werke wie große Flügel- und Wandelaltäre des Spätmittelalters heute weltweit verstreut in Museen und Privatsammlungen aufbewahrt werden oder im Kunsthandel kursieren. Damit geraten Ordnungssysteme im Archiv, in dem üblicherweise nach Künstler*innen oder Standorten sortiert wird, an ihre Grenzen. Denn oft existiert weder eine namentlich greifbare Person noch ein dauerhaft gültiger Standort für das Kunstwerk. So liegen etwa die Fotos eines ursprünglich zusammengehörenden, mehrteiligen Werkes – wie ein Polyptychon – oftmals an vielen unterschiedlichen Orten in der Photothek. Und trotz dieses oder jenes Querverweises bleibt ein gewisses Unbehagen, dass sich ein Foto nur deshalb nicht finden lässt, weil man in der falschen Box danach gesucht hat.
Darin spiegelt sich freilich nur die reale, historisch bedingte Zerstreuung dieses Kunstbestands, der bereits seit seiner Entdeckung zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zeitalter der Säkularisation starke Begehrlichkeit von Antiquitäten- und Kunsthandel, Wissenschaft, privaten Repräsentationsbedürfnissen und aristokratischer Sammlungspolitik geweckt hatte. Mit den Worten „retten, was noch zu retten war …“ beschreibt Sulpiz Boisserée im Jahre 1804 die für ihn erschütternde Situation, dass die kirchlichen Besitztümer des Mittelalters säkularisiert und, aus ihren Kontexten gerissen, „in schnödester Hast an Händler und Trödler verkauft“ wurden (Janzen 2021). Er und sein Bruder Melchior trugen in den folgenden Jahren über 200 altdeutsche Gemälde – zu denen in dieser Zeit auch die altniederländischen gezählt wurden – zu einer Sammlung zusammen, die ab 1810 in Heidelberg öffentlich ausgestellt wurde. Auf diese Weise fand zu Beginn des 19. Jahrhunderts manch großer mittelalterlicher Flügelaltar seinen Platz in den privaten Räumlichkeiten eines wohlhabenden Bürgers – wie der Altar von St. Gereon aus dem Jahr 1420 in einem Wohnhaus in Köln oder sechs Flügelgemälde des Genter Altars im Hause eines englischen Kaufmanns. Viele dieser kostbaren Privatsammlungen wurden später von großen Museen in ganz Europa übernommen oder durch den mit der Säkularisation stark zunehmenden Kunsthandel auf der ganzen Welt verstreut. Hinzu kam, dass man im 19. Jahrhundert damit begann, die Tafeln der Flügel zu spalten – mit dem Ziel einer besseren Präsentation von Vorder- und Rückseite in einem Museum oder zu einem profitableren Verkauf (Janzen 2021). Viele Kunstwerke verloren also nicht nur ihren Kontext, sondern wurden teilweise auch in Einzelteile zerlegt.

So finden sich in den Nachlässen von Benesch und Stange insgesamt 14 Abbildungen, die den Marienzyklus eines Altars des „Meisters von Schloss Lichtenstein“, tätig um 1450, zeigen. Die Tafeln des Zyklus sind heute weltweit verteilt: Philadelphia (Art Museum), Tallinn (Niguliste Muuseum), Warschau (Muzeum Narodowe w Warszawie), Moskau (Puschkin-Museum), vorm. Berlin (Deutsches Museum, Kriegsverlust), München (Bayer. Staatsgemäldesammlungen) und Wien (Belvedere). Zwei der Tafeln sind am Auslagerungsort in Berlin während des Zweiten Weltkriegs verloren gegangen. Monika Wagner (Wagner 2022) spricht in diesem Zusammenhang von „fotografischer Mortifizierung“ und meint damit verschollene oder zerstörte Gemälde, deren Aussehen heute nur mehr von Schwarz-Weiß-Fotos bekannt ist. Auch in der Photothek des ZI finden sich solche Beispiele, darunter auch Aufnahmen, die ausschließlich hier überliefert sind.
Kontexte: Wissenschaftsgeschichte und Provenienzforschung
Eine der Tafeln, „Die Flucht nach Ägypten“, war für das „Führermuseum“ in Linz vorgesehen (1940 im Inventar). 1946 restituiert, wird es heute im Wiener Belvedere aufbewahrt (dazu Kat. Ausst. Wien 2014). Waren das Mittelalter und die „ältere deutsche Kunst“ im 19. Jahrhundert zunehmend als identitätsstiftender Ursprung einer nationalen, deutschen Kultur in Anspruch genommen worden, intensivierte sich diese Tendenz im Nationalsozialismus und erhielt eine genuin politische Dimension: Die „altdeutsche“ Kunst diente der Definition einer ideologisierten „deutschen“ Kunst und wurde zum begehrten Sammelobjekt der NS-Eliten.
Die drei Protagonisten Otto Benesch, Ernst Buchner und Alfred Stange – alle in den 1890er- Jahren geboren – prägten die Forschungslandschaft zum Thema „altdeutsche Kunst“ von den 1920er Jahren bis in der Nachkriegszeit. Die beiden letztgenannten verhielten sich ab 1933 in hohem Maße affirmativ zum nationalsozialistischen Regime, während Benesch nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 wegen seiner als jüdisch verfolgten Frau in die USA emigrierte.
Stange und Buchner waren aktiv am Kunstraub beteiligt, als Sachverständige und Gutachter im NS wie in der Nachkriegszeit gefragt. Sie initiierten Fotokampagnen – was ihnen Einblicke in unbekannte Bestände erlaubte –, und wussten vom Verbleib ausgelagerter Kunstwerke während des Krieges. Sie waren sowohl darüber informiert, welche Gemälde für das Linzer Museum gesucht wurden, als auch darüber, wo sich diese Werke zuvor befunden hatten (dazu Doll 2002; Doll 2003; Grötecke 2018; Sepp 2020).

Annotationen der drei Kunsthistoriker auf den Rückseiten der Fotografien – zum Teil auch ausführliche Gutachten – vermerken die Namen vorheriger Besitzer*innen, nennen Sammlungen oder geben ehemalige Standorte der Kunstwerke an; in der Regel wurden diese Informationen auf den Fotokarton übertragen. Aus dem Nachlass Beneschs hat sich ein solcher Hinweis rechts unterhalb der Abbildung der Hll. Bartholomäus und Sebastian erhalten: „Berlin (?), Slg. Goldschmidt und Wallerstein (ehem. Viktoriastraße 21)“. Die zwangsweise Schließung der 1919 gegründeten Galerie Goldschmidt-Wallerstein in Berlin, geführt von zwei jüdischen Kunsthistorikern, erfolgte 1934, ihre endgültige Liquidierung zwei Jahre später.
Methoden, Digitalisierung und epistemologisches Potenzial
Die vielfältig verwobenen – visuellen wie textbasierten – Informationen der Fotokartons können bisher nur vor Ort ausgewertet werden. Ein in Planung befindliches Projekt soll nun einen Teilbestand der Sammlung im Hinblick auf die wissenschaftshistorischen Praktiken untersuchen und dabei zugleich den Einsatz digitaler Medien und Methoden überprüfen. Besonders fruchtbar dürfte dies im Bereich der anonymen Werke sein, da hier die historischen stilkritischen Kategorien und die Attribution an Meister, Schulen, Kunstlandschaften, Regionen, Nationen, Volkscharaktere etc. verschärft sichtbar werden.
Eine wichtige Voraussetzung für die Planung ist, dass der Foto-Bestand inzwischen nahezu vollständig digitalisiert wurde und derzeit im Rahmen von kunst.bild.daten auch mit Inventardaten erschlossen wird. Dies erlaubt es, die in die Photothek einsortierten Bestände der drei Forscher zu filtern, zu gruppieren und zahlenmäßig zu erfassen. In der geplanten Projektarbeit sollen darauf aufbauend – und unter Hinzuziehung von Verfahren der Computer Vision und anderer Analyseverfahren – Aspekte der Stil- und Zuschreibungsgeschichte, Werkstattorganisation und -zusammenhänge, topografischen Einordnung anonymer Kunstwerke, Kunstgeografie und Kulturtransfer, Sammlungsgeschichte, aber auch Methoden- und Mediengeschichte des Fachs kritisch untersucht werden: Wie gut konnte die „Kunstgeschichtsschreibung nach Reproduktionen“ überhaupt funktionieren? Umgekehrt kann auch gefragt werden, in welchem Ausmaß etwa die Zuschreibungspraxis Alfred Stanges in seinem bis heute viel zitierten Hauptwerk Deutsche Malerei der Gotik (Stange 1934–1961) ideologisch geprägt war. Zu klären bleibt, welche Bedeutung diese Aspekte für die aktuelle Forschung zur „altdeutschen“ Malerei in privaten und öffentlichen Sammlungen, im Handel und in der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung haben könnten.
Dr. Sibylle Weber am Bach, Mitarbeiterin im Fotoarchiv der Bayerischen Schlösserverwaltung München.
LITERATUR:
- [Kat. Ausst.] Husslein-Arco, Agnes (Hrsg.): Wien 1450 – Der Meister von Schloss Lichtenstein und seine Zeit. Ausstellung vom 8. November 2013 bis 23. Februar 2014 in der Orangerie des Unteren Belvedere, Wien.
- Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963 (Edition Suhrkamp; 28) Urspr. auf Französisch erschienen in: Zeitschrift für Sozialforschung, 5, 1936.
- Caraffa, Constanza (Hrsg.): Fotografie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte. Berlin/München 2009.
- Doll, Nikola: Die “Rhineland-Gang”. Ein Netzwerk kunsthistorischer Forschung im Kontext des Kunst- und Kulturgutraubes in Westeuropa. In: Museen im Zwielicht, Ankaufspolitik 1933-1945. Veröffentlichung der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste, Bd. 2, Magdeburg 2002, S. 53–80.
- Doll, Nikola: Politisierung des Geistes. Der Kunsthistoriker Alfred Stange und die Bonner Kunstgeschichte im Kontext nationalsozialistischer Expansionspolitik. In: Dietz, Burkhard (Hrsg.): Griff nach dem Westen: die “Westforschung” der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), Bd. 2, Münster/München 2003, S. 979–016.
- Grötecke, Iris: Alfred Stange – Politik und Wissenschaft: Ordinarius des Bonner Kunsthistorischen Instituts von 1935 bis 1945, in: Das Kunsthistorische Institut in Bonn. Berlin, München 2018, S. 146–175.
- Janzen, Svea: Wege ins Museum. Zur Musealisierung mittelalterlicher Kunst im 18. und 19. Jahrhundert. In: [Kat. Ausst.] Roth, Michael/Eissenhauer, Michael (Hrsg.): Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Berlin 2021, S.20–27.
- Sepp, Theresa: Ernst Buchner (1892-1962): Meister der Adaption von Kunst und Politik. München 2020. (Dissertationen der LMU München; Band 42).
- Stange, Alfred: Deutsche Malerei der Gotik. Bd. 1–11, München/Berlin 1934–1961.
- Wagner, Monika: Kunstgeschichte in Schwarz-Weiß. Reproduktionstechnik und Methode. Göttingen 2022.
- Wölfflin, Heinrich. Die Jugendwerke des Michelangelo 1891; Einleitung von Joseph Imorde. In: Tristan Weddigen und Oskar Bätschmann (Hrsg.): Heinrich Wölfflin. Gesammelte Werke. Bd. 4, Basel 2020.


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