Anna Lena Frank zu erleuchtenden Erkenntnissen über Hogwarts als „Museum“ mittelalterlicher Kunst: Lumos Maxima!

TEIL 1: INS MITTELALTER GEZAUBERT?

Die mit der sogenannten Corona-Notbremse einhergehende Zwangspause zu Hause könnte man produktiv nutzen und einen Frühjahrsputz starten, oder man verbringt die Zeit auf dem Sofa bei einem Harry Potter-Marathon. Dazu passend soll der erste Film der Saga hier im Folgenden schlaglichtartig aus kunsthistorischer Perspektive, im Sinne eines kurzweiligen Bildseminars, unter die Lupe genommen werden. Stellt sich doch anlässlich der Tatsache, dass zahlreiche Werke der bildenden Kunst des Mittelalters in ihm einen Auftritt haben, die Frage, inwiefern diese gezielt eingesetzt werden, um die wohl beliebteste magische Welt aller Zeiten zu kreieren. Ein Besuch – natürlich corona-konform mit Mund-Nasen-Schutz – in der Bibliothek, kann Antworten liefern und würde die beflissene Büchernärrin Hermine sicherlich stolz machen…

Seit dem Ende der 90er Jahre eroberten zunächst die Bücher der Harry Potter-Reihe und dann ab 2001 auch die entsprechenden Verfilmungen weltweit die Kinderzimmer, eine ganze Generation wurde mit ihnen und ihren Protagonisten erwachsen. Ein wichtiger Aspekt dieses Erfolgs liegt wohl darin begründet, dass die Geschichte – anders als viele weitere Romane des Fantasy-Genres – nicht in einer „secondary world“ spielen; vielmehr wird die Realität, unsere Welt also, von J. K. Rowling um magische Elemente erweitert. In Konsequenz spielen ihre Geschichten zum Teil an tatsächlich existierenden Orten wie beispielweise dem Bahnhof Kings Cross.

Abb. 1: Das fliegende Auto der Weasleys vor Kings Cross, Harry Potter und der Stein der Weisen (Chris Columbus, Warner Brod., US/GB 2001), 00‘22’43

Mindestens ebenso wichtig ist jedoch auch die Einbindung intertextueller bzw. intermedialer Referenzen auf bekannte Geschichten, Objekte und Ideen wie etwa die Artus-Sage oder Motive der Bibel (vgl. die Seite der British Library Harry Potter: a brief history of magic, auf der mittelalterliche und frühneuzeitliche Manuskripte vorgestellt werden, die Rowling als Inspiration gedient haben dürften).

In den Verfilmungen finden des Weiteren vornehmlich mittelalterliche Schauplätze und Artefakte Verwendung, die verdeutlichen sollen, dass die magische Welt ebenso weit zurückreicht, wie die unsere. So entführen alle Verfilmungen der sieben Harry Potter-Bände die Zuschauer*innen durch den zentralen Handlungsort Hogwarts in eine fantastische Gotik-Welt, die zu schön scheint, um wahr zu sein – und genau das auch ist. Denn tatsächlich gibt es dieses Gebäude so nicht! Während einige Orte der Zauberschule extra für den Film entworfen und gebaut wurden, dienten darüber hinaus zahlreiche Bauwerke über ganz England verstreut als Kulissen: die Kreuzgänge der Kathedralen von Durham und Gloucester ebenso wie Alnwick Castle, die Bodleian Library, die Harrow School, Lacock Abbey, das New College und das Christ Church College in Oxford.

Abb. 2: Harry und Ron verfolgen den Troll an Halloween auf einem Flur von Hogwarts (Kreuzgang Cloucester Cathedral), Harry Potter und der Stein der Weisen (Chris Columbus, Warner Bros., US/GB 2001), 01‘07’01

Dieser Eklektizismus mag den meisten Betrachter*innen nicht auffallen, doch entgehen die feinen Ungereimtheiten in der Formensprache Kunsthistoriker*innen sicher nicht. Denn auch der Versuch, die verschiedenen Drehorte visuell durch wiederkehrende Hogwarts-typische Gegenstände und Bauteile, wie etwa Fackeln mit Eulen-Kapitellen, zu verknüpfen, vermag diese Unstimmigkeiten nicht vollends aufzulösen. Den Set-Gestalter*innen gelang es dennoch, durch den Rückgriff auf vornehmlich britische historische Gebäude als Inspirationsquellen oder Drehorte eine Verbindung zum tatsächlichen Kulturerbe des Landes herzustellen, sodass überall auf der Insel Harry Potter-Touren aus dem Boden sprossen: „Triggering a certain sense of nostalgia for the ‘good old times’ by showing the wizarding world is apt to reinforce the overall interest in national heritage.” (Marion Gymnich u. Klaus Scheunemann: The ‘Harry Potter Phenomenon‘: Forms of World Building in the Novels, the Translations, the Film Series and the Fandom, in: “Harry – yer a wizard”. Exploring J.K. Rowling’s Harry Potter Universe (Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag, Reihe Anglistik 6), hrsg. von Marion Gymnich, Hanne Birk u. Denise Burkhard, Baden-Baden 2016, 12–36, hier: 26). Und das, obwohl nicht immer Wert auf historische Genauigkeit gelegt wurde, sondern oftmals durch das Hinzufügen eines magischen Aspektes Orte und Objekte Veränderung erfuhren: So rekurriert beispielsweise die Große Halle von Hogwarts auf diejenige des Christ Church Colleges, wird aber durch einen künstlichen Himmelsausblick abstrahiert. Am Ende jedoch wird durch dieses Collagieren historistischer Gebäude sowie ein intermediales Verweissystem eine überzeugende magische Welt erschaffen.

Dass die Harry Potter-Filme sich dabei ausgerechnet einer mittelalterlichen Bildsprache bedienen, ist angesichts ihrer Nähe zum Genre der phantastischen Literatur nicht verwunderlich. Denn gerade diese ist oftmals überhäuft von Klischees, die in der Regel mit dem Mittelalter in Verbindung gebracht werden. Es geht bei diesem Vorgehen folglich nicht nur um das nationale Erbe Großbritanniens, sondern ebenfalls um den Stellenwert, den „das Mittelalter” als Lieferant für Versatzstücke für diverse historische Settings bietet (vgl. Tobias Kurwinkel u. Philipp Schmerheim: Motive und Motivelemente mittelalterlicher Überlieferung in Kinder- und Jugendliteratur und Kinder und Jugendfilm, in: Mittelalter im Kinder- und Jugendbuch, Bamberger 2012, 155–175, hier: 156). Zugleich ist zu bedenken, dass Hogwarts in den Büchern Rowlings als Ort mit reicher Geschichte präsentiert wird. Durch die Anknüpfung an bekannte und mit dem Mittelalter assoziierte Elemente wird die Jahrhunderte überspannende fiktive Historie des Ortes glaubwürdig gestaltet.

Dieser Erschaffung der Harry Potter-Welt wohne, laut der Literaturwissenschaftlerin Iris Mende, ein spielerischer Aspekt inne. Denn von den Zuschauer*innen werde einerseits eine gewisse Kompetenz, andererseits aktives Engagement erwartet, um das Verweissystem entschlüsseln zu können – es sei jedoch keine Voraussetzung, um die Erzählung der Filme zu verstehen. Das Decodieren der magischen Welt steigere allerdings die Freude beim Zusehen und lasse die Betrachter*innen so partizipieren. Diese Form des Zugangs sei es auch, die den Reiz beim Lesen der Bücher, durch das Erkennen der intertextuellen Referenzen, ausmache. Insbesondere gelte dies, wenn man als Erwachsener die Bücher (erneut) liest – denn diese Metaebenen der Handlung könnten wohl kaum von der eigentlichen Zielgruppe, der Jugend, entschlüsselt werden (vgl. zu diesem spielerischen Ansatz Iris Mende: Spiel und Sinngebung – intertextuelle Referenzen in den Harry Potter-Büchern und ihren filmischen Adaptionen, in: Harry Potter Intermedial. Untersuchungen zu den (Film-) Welten von Joanne K. Rowling (Kinder- und Jugendliteratur Intermedial 2), hrsg. von Tobias Kurwinkel u. w. 2014, 81–92; Naemi Winter: ‘I read about it in Hogwarts: A History’: The Reception and Function of History in the World of Harry Potter, in: Gymnich u.w. 2016, 95–106). Ebenso sind einige Objekte in den Filmen der breiten Masse von Zuschauer*innen vermutlich unbekannt und bleiben dementsprechend unbemerkt. Und so werden wohl nur aufmerksame und (kunst)historisch belesene Betrachter*innen die folgenden zwei Werke der mittelalterlichen Kunstgeschichtsschreibung aufgefallen sein: die Teppiche der Dame mit dem Einhorn aus dem Pariser Musée national du Moyen Âge, die in allen acht Filmen die Wände des Gryffindor-Gemeinschaftsraum schmücken sowie die sogenannten Lewis Chessmen aus dem British Museum in London und dem National Museum of Scotland in Edinburgh, die im ersten Film Harry Potter und der Stein der Weisen ihren Auftritt haben.

Weiter geht es mit magischen Einhörnern in Teil 2…

ANNA LENA FRANK, M.A. war 2018 bis 2019 Stipendiatin der Freien und Hansestadt Hamburg am ZI. Derzeit ist sie Stipendiatin der Gerda Henkel Stiftung mit einem Dissertationsprojekt zur Intermedialität der Epitaphien aus der Zeit der Konfessionalisierung (ca. 1530 bis 1630) in den von Johannes Bugenhagen reformierten Territorien Hamburg, Lübeck, Schleswig und Holstein.