Anna Lena Frank zu einigen erleuchtenden Erkenntnissen über Hogwarts als „Museum“ mittelalterlicher Kunst: Lumos Maxima!

Ein Ausschnitt aus einem großen roten Wandteppich. In der Mitte des Teppichs findet sich eine große, elegante Frau, die vor einem blauen Zelt steht. Sie greift in eine Truhe, die ihr eine kleinere Frau hinhält. Sie werden von Bäumen, Fahnen und zahlreichen Tieren umgeben. Unter den Tieren findet sich auch ein weißes Einhorn.

TEIL 2: MAGISCHE EINHÖRNER

Werfen wir also einen Blick in den Gryffindor Gemeinschaftsraum und auf die sich darin befindenden Tapisserien. Alle sechs Bildwirkereien des Zyklus‘ Die Dame mit dem Einhorn (Ende 15. Jh.), sind an den Wänden des vieleckigen Raumes aufgehängt (vgl. u.a. Gabriela Reus: ‚La Dame à la licorne‘. Tapisserien als Kunstform des aufstrebenden Bürgertums, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 33, 2016, 59–90).

Abb.3: Gryffindor Gemeinschaftsraum mit den Teppichen aus dem Zyklus „Die Dame mit dem Einhorn“, Harry Potter und der Stein der Weisen (Chris Columbus, Warner Bros., US/GB 2001), 00‘47’23

Zum Teil sind sie rigoros beschnitten oder seitenverkehrt wiedergegeben. So wird deutlich, dass ihrem Inhalt keine wirkliche Bedeutung zukommt und offenbar tatsächlich allein die Farbigkeit der Teppiche ausschlaggebend für die Wahl ihrer Verwendung im Set war – was Hinweisschilder in den heute als Museum dienenden Studios erklären. Denn die bestimmenden Farben des Hauses Gryffindor sind rot und gold und die Tapisserien haben alle einen roten Hintergrund, der über und über mit Streublumen (millefleurs) belegt ist. Zentral sind szenische Darstellungen von Handlungen einer jungen Dame – immer von einem Löwen und einem Einhorn begleitet – zu sehen, die zumeist als die fünf Sinne gedeutet werden.

Im Hintergrund des Stills aus dem Film Harry Potter und der Stein der Weisen (Abb. 3) – die neuen Gryffindors betreten zum ersten Mal ihren Gemeinschaftsraum – ist die rätselhafte sechste Darstellung zu sehen, die mit „A mon seul désir“ (für mein einziges Verlangen/einzig nach meinem Verlangen) in der Bordüre des Brokatzeltes überschieben ist und zu den fantastischsten Deutungen geführt hat.

Abb. 4: A mon seul désir, Tapisserie aus der Serie La Dame à la licorne, Paris, Musée national du Moyen Âge (wikimedia commons)

Der Löwe und das Einhorn teilen hier die beiden Vorhänge des blauen Zeltes, das auf keinem der anderen Teppiche zu finden ist. Es scheint als würde auf dieser Tapisserie der Eingang in eine neue Welt geöffnet – passend zur Szene im Film, denn auch dort betreten die angehenden Zauberer und Hexen ihr neues Zuhause, die magische Welt.

Dass es sich bei der Wahl der Einhorn-Bildwirkereien nicht nur um einen Zufall, sondern um eine bewusste Inszenierung handelt, macht ein zur Seite geraffter Vorhang eines Durchgangs, der in der Weihnachts-Szene wenig später im Film kurz zu sehen ist, deutlich. Dieser entpuppt sich nämlich als ein Teil der wohl zweitberühmtesten Teppich-Serie mit einem Einhorn im Zentrum: Es handelt sich dabei um die Darstellung eines Einhorns im Garten der Einhornjagd (ebenfalls um 1500) aus dem New Yorker Metropolitan Museum. Das Thema wird also trotz unpassender Farbigkeit – diese Tapisserie hat einen grünen Hintergrund – weitergeführt.

Und so scheint nicht nur der rote Hintergrund des Pariser Zyklus‘ für diese Kulisse geeignet gewesen zu sein. Denn die darauf zu sehenden Einhörner passen zwar nicht explizit in die Gryffindor-, so doch in die magische Harry Potter-Welt. Denn in einer Stunde des Faches „Pflege magischer Geschöpfe“, werden nur die Mädchen aufgefordert näher an das dort vorgeführte Einhorn zu treten, beruhend auf den Informationen zu dieser Kreatur in dem tatsächlich auch erhältlichen Schulbuch Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Rowling auf den Physiologus bezieht. Denn bereits dort wird das Einhorn als mutig, sehr kräftig und als ein Wesen beschrieben, das ausschließlich von Jungfrauen gefangen werden könne, da diese ebenso rein und unschuldig seien wie dieses Tier. Aber nicht nur in den Fächern „Pflege magischer Geschöpfe“ und „Zaubertränke“ (gemahlenes Einhornhorn als magische Zutat) findet das Einhorn Erwähnung, sondern es hat im ersten Teil einen bedeutungsvollen Auftritt: Professor Quirrel, der Lehrer für das Fach „Verteidigung gegen die dunklen Künste“, tötet ein Einhorn, um dessen Blut zu trinken. So will er den bösesten Zauberer aller Zeiten, Lord Voldemort, mit dem er sich zu dieser Zeit einen Körper teilt, am Leben erhalten. Denn Einhornblut verlängert, wie Harry von einem Zentauren erfährt, das Leben. Gleichzeitig verdammt es aber auch diejenigen, die es trinken, da etwas so Unschuldiges getötet wurde…

Weiter geht es mit Teil 3: Schach matt! und Finite Incantatem

ANNA LENA FRANK, M.A. war 2018 bis 2019 Stipendiatin der Freien und Hansestadt Hamburg am ZI. Derzeit ist sie Stipendiatin der Gerda Henkel Stiftung mit einem Dissertationsprojekt zur Intermedialität der Epitaphien aus der Zeit der Konfessionalisierung (ca. 1530 bis 1630) in den von Johannes Bugenhagen reformierten Territorien Hamburg, Lübeck, Schleswig und Holstein.