Timo Strauch über Wanderstraßen der Antike

Druckgrafik eines Frauenkopfs mit einem Helm mit Tierohren und Tierhörnern vor zitronengelben Hintergrund.

Die Ausstellung „Wanderstraßen der Antike. Gedruckte Bilderschätze der Frühen Neuzeit“ ist bis zum 10. Januar 2024 am ZI in München zu sehen.

Dicht gedrängt und in strahlendem Weiß präsentieren sich die Gipsabgüsse hunderter antiker Kunstwerke im nördlichen Lichthof des Hauses der Kulturinstitute und vermitteln den Besucher*innen gleichsam handgreiflich die Bedeutung, welche der Kenntnis und der Vertrautheit mit diesen Abbildern von Göttern, Helden und Themen der Kulturen des Altertums schon immer zugemessen wurde. Viel länger als der wegen seiner Fertigungsweise echte Originaltreue garantierende Abguss dienten dazu allerdings die verschiedenen Erscheinungsformen der Druckgrafik, von denen nun eine exemplarische Auswahl in der von Ulrich Pfisterer und Ann-Kathrin Fischer kuratierten Vitrinenausstellung Wanderstraßen der Antike. Gedruckte Bilderschätze der Frühen Neuzeit gezeigt wird (Abb. 1).

Innenraumaufnahme eines schönen, mehrstöckigen Gebäudes. Im Vordergrund Steht das rote Ausstellungsplakat für die Ausstellung Wanderstraßen der Antike. Dahinter stehen einige Glasvitrinen.
Abb. 1: Blick in den 1. Stock des nördlichen Lichthofs des Hauses der Kulturinstitute, München (Foto: Susanne Spieler)

Das Stichwort „Wanderstraßen“ betont dabei vor allem einen Aspekt der ausgewählten Exponate, nämlich die Tatsache, dass die gelehrte Beschäftigung mit den materiellen Hinterlassenschaften der Antike, die zum visuellen Abgleich mit den überlieferten antiken Texten herangezogen wurden, regelmäßig mit Wiederholungen bereits verfügbarer Abbildungen operierte. Teils über Jahrhunderte hinweg reihte sich mitunter Kopie an Kopie, ohne dass die ausführenden Künstler oder die mithilfe der Bilder argumentierenden Autoren das eigentliche Objekt des Diskurses jemals selbst vor Augen gehabt hätten. Dieses Merkmal der Epoche ist seit Johann Joachim Winckelmanns vehementer Kritik daran hinlänglich bekannt, aber erst jetzt werden die tatsächlichen Ausmaße des weit verzweigten Netzwerks europäischer Bildquellen des 17. und 18. Jahrhunderts sichtbar. Im Rahmen des Akademienvorhabens Antiquitatum Thesaurus werden die Zeichnungen und Drucke systematisch und in digitaler Form erschlossen (s. https://thesaurus.bbaw.de/de). Einige der bisherigen Ergebnisse flossen in die Münchener Ausstellung ein.

Hauptzeuge ist hier wie dort der französische Gelehrte Bernard de Montfaucon (1655–1741), dessen ‚Bilder-Enzyklopädie‘ L’Antiquité expliquée et représentée en figures 1719 erstmals in fünf Doppelbänden erschien und 1724 durch fünf Supplement-Bände ergänzt wurde. Darin bündelte Montfaucon das antiquarische Wissen seiner Vorläufer und erntete gleichzeitig die Erträge von deren Bildproduktion, indem er tausende Buchillustrationen und Zeichnungen zusammentrug, der Systematik seiner eigenen Wissensordnung unterwarf und durch eine Equipe von Stechern für seine insgesamt ca. 1.400 Tafeln grafisch weitgehend harmonisieren ließ. Seine mal mehr, mal weniger leicht zu entschlüsselnden Quellenangaben bilden den idealen Wegweiser auf den rückwärts gerichteten „Bilderwanderungen“ der Ausstellung.

In fünf Vitrinen werden diese „Bilderwanderungen“ jeweils in einer Vitrine präsentiert, wobei die Exponate der einzelnen Schaukästen gleichzeitig auch eine jeweils andere Facette der Antikenabbildung veranschaulichen: Es geht um die „Dokumentation“ realer antiker Artefakte; um die „Rekonstruktion“ antiker Lebenspraxis, wie beispielsweise des römischen Badewesens; um die Überzeugungskraft „falscher Antiken“, wenn Antiquare neuzeitliche Kunstwerke für authentische Zeugnisse der Antike hielten; um „fantastische Antiken“, die allein auf dem Papier entstanden, weil die aus Gelehrsamkeit gespeiste Vorstellungskraft der Autoren offenbar einen Ausdruck im Bild erforderte; und um oft aus denselben Gründen „imaginierte Architekturen“.

So steht ein heute in der Berliner Antikensammlung aufbewahrter Antefix mit dem Abbild der Juno Sospita von ca. 500 v. Chr. (Thesaurus-ID 1369691) für die „Dokumentation“ eines realen antiken Artefakts. Es wurde erstmals 1644 in dem Buch „De profanis et sacris veteribus ritibus“ seines ersten nachweisbaren Besitzers Giovanni Battista Casali als kolorierter Holzschnitt publiziert (Abb. 2, Thesaurus-ID 1512961). In der Ausstellung ist die Kupferstichtafel in einer postumen Neuausgabe von Casalis Werk von 1681 zu sehen (Abb. 3, Thesaurus-ID 1524035). Selbst wenn der Stich gegenüber dem Holzschnitt eigentlich die besseren technischen Voraussetzungen für eine differenzierte, getreue Wiedergabe des Originals bot, musste der anonyme Stecher hier aufgrund des fehlenden Zugangs zum Objekt eine bloße Kopie nach der älteren grafischen Vorlage liefern, was dazu führte, dass die schon im Holzschnitt schlecht getroffene Physiognomie der Göttin weiter den zeitgenössischen Vorstellungen bzw. dem persönlichen Stil des Stechers angeglichen wurde und die in der Kolorierung vermittelte Farbigkeit gänzlich verloren ging.

Rot-schwarze Zeichnung eines Frauenkopfs. Sie scheint einen Helm mit Tierohren und Tierhörnern zu tragen.
Abb. 2: Anonymer Holzschneider, Juno-Sospita-Antefix, in: Giovanni Battista Casali: De profanis et sacris veteribus ritibus, Rom 1644, S. 67 (Foto: Universitätsbibliothek Heidelberg, Public Domain Mark 1.0)
Druckgrafik eines Frauenkopfs. Sie scheint einen Helm mit Tierohren und Tierhörnern zu tragen.
Abb. 3: Anonymer Kupferstecher, Juno-Sospita-Antefix, in: Giovanni Battista Casali: De profanis et sacris veteribus ritibus opus tripartitum, Frankfurt am Main/Hannover 1681, Abb. 9 zu S. 38 (Foto: Universitätsbibliothek Heidelberg, Public Domain Mark 1.0)

Dagegen stellt die erneute „Dokumentation“ des Antefix in Lorenz Begers Thesaurus Brandenburgicus selectus von 1701 eindeutig eine qualitative Verbesserung dar (Abb. 4, Thesaurus-ID 1486935). Angesichts der überzeugenderen Wiedergabe der Physiognomie ist davon auszugehen, dass der für Beger tätige Stecher das reale Artefakt, welches durch den Ankauf der Sammlung Bellori 1698 nach Berlin gekommen war, mit eigenen Augen gesehen und gezeichnet hat. Auf das Mittel der Farbigkeit musste aber auch er verzichten. Schließlich ließ Bernard de Montfaucon für die L’Antiquité expliquée wiederum Begers Abbildung kopieren, und erneut führte dies vor allem zum Verlust der neben der Farbigkeit prägnantesten Eigenschaft des Antefixes: der archaischen, für das darin ungeübte nordalpine Künstlerauge wohl zu exotischen Gesichtszüge der Göttin (Abb. 5, Thesaurus-ID 1467292).

Druckgrafik eines Frauenkopfs. Sie scheint einen Helm mit Tierohren und Tierhörnern zu tragen.
Abb. 4: Anonymer Kupferstecher, Juno-Sospita-Antefix, in: Lorenz Beger: Thesaurus Brandenburgicus selectus, Bd. 3, Berlin 1701, S. 300 (Foto: Universitätsbibliothek Heidelberg, Public Domain Mark 1.0)
Druckgrafik eines Frauenkopfs. Sie scheint einen Helm mit Tierohren und Tierhörnern zu tragen.
Abb. 5: Anonymer Kupferstecher, Juno-Sospita-Antefix, in: Bernard de Montfaucon: L’Antiquité expliquée et représentée en figures, Paris 1719, Bd. 2.2, Taf. 113, Abb. 1 (Foto: Universitätsbibliothek Heidelberg, Public Domain Mark 1.0)

Neben den fünf „Bilderwanderungen“, die jeweils denselben Gegenstand in seinen variantenreichen Auftritten in Büchern verfolgen, illustrieren drei weitere Vitrinen die „Spielräume der Darstellung“. Selbst wenn ein ikonisches „Werk“ wie die vatikanische Laokoongruppe der Gegenstand des Interesses war, heißt das nicht, dass alle bildlichen Wiedergaben der Skulptur identisch aussehen. Für das „Thema“ Herkules sammelten die Antiquare eine große Bandbreite antiker Bildbeispiele verschiedenster Gattungen. Die „Person“ des Julius Caesar wiederum begegnete ihnen zwar auf Münzen, auf Gemmen und in Büsten, dennoch erfuhr sie in den antiquarischen Bildern eine Transformation, durch die sie sich von den antiken Vorbildern löste. In einer letzten Vitrine richtet sich der Blick über das griechisch-römisch geprägte Europa hinaus auf die „Antiken im globalen Kontext“.

Bernard de Montfaucon trug für die über 5.000 Einzelabbildungen in seinem Werk von 1719 Vorlagen aus über 300 Büchern zusammen. In der Datenbank des Antiquitatum Thesaurus sind bereits jetzt über 10.000 frühneuzeitliche Grafiken verzeichnet, und sie wächst stetig weiter. Die derzeit in München gezeigten 48 Bücher bieten einen konzentrierten und anschaulichen Einblick in die antiquarische Bilderwelt vom 16. bis ins 18. Jahrhundert. Die Ausstellung kann noch bis zum 10.01.2025 besichtigt werden.

Dr. TIMO STRAUCH ist Arbeitsstellenleiter des Akademienvorhabens Antiquitatum Thesaurus. Antiken in den europäischen Bildquellen des 17. und 18. Jahrhunderts an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Die von Ulrich Pfisterer (Projektleitung) konzipierte und Ann-Kathrin Fischer organisierte Ausstellung im ZI ermöglicht einen faszinierenden Einblick in gedruckte Bilderschätze der Frühen Neuzeit. Präsentiert werden Ergebnisse des Akademievorhabens Antiquitatum Thesaurus (BBAW). Die im Rahmen des Projekts entstehende Bilddatenbank des Antiquitatum Thesaurus verzeichnet bereits jetzt ca. 10.000 Grafiken und verknüpft sie untereinander und mit den darin abgebildeten Artefakten. Mithilfe der digitalen Methoden des 21. Jahrhunderts entsteht damit eine für alle Interessierten nützliche Karte der „Wanderstraßen der Antike“.