Birgit Jooss über die „Hälfte eines Diptychons“

Ein Ausschnitt aus einer Karteikarte mit einigen handschriftlichen Vermerken. Sie wurde mit einem großen roten Kreuz durchgestrichen.

Die Objektkarteikarten der Kunsthandlung Julius Böhler dokumentieren nicht nur Transaktionen von Kunstwerken, sondern enthalten auch zahlreiche Informationen über gesellschaftliche und politische Vorgänge. So auch die Karte mit der Nummer 35 –5: Festgehalten ist der Auktionsankauf eines Elfenbeinreliefs am 29. Januar 1935. Stutzig macht eine Eintragung auf der linken Seite. An der Stelle, an der üblicherweise die Provenienzen festgehalten werden, vermerkte Böhler eine Auktion aus Beständen dreier Galerien: „sämtlich in Liquidation“. Hatte man hier etwa unbekümmert rigide Maßnahmen des NS-Regimes notiert? Aber warum? Da der Eingang mit „Auktion Paul Graupe, Berlin Verst. No. 137 25./26.1.35 No. 110“ genau vermerkt ist, lassen sich Versteigerung und Objekt schnell eruieren (Abb. 1).

Der Auktionator Paul Graupe (1881– 1953) hatte am 25. und 26. Januar 1935 „Die Bestände der Berliner Firmen Galerie van Diemen & Co GmbH, Altkunst Antiquitäten GmbH, Dr. Otto Burchard & Co GmbH“ zur Versteigerung angeboten. Der Untertitel dieser Auktion nannte die Umstände: „sämtlich in Liquidation“, eine Formulierung, die Böhler also auf seine Karteikarte wortwörtlich übertragen hatte. Hatte die Auflösung der Galerien damit zu tun, dass sie von Juden geführt wurden? Denn während „arisch“ geführte Kunsthandlungen wie Julius Böhler zu diesem Zeitpunkt ohne Probleme Kunsthandel betreiben durften, waren die meisten Kollegen jüdischer Herkunft seit März 1933 zunehmend gezwungen, ihre Geschäfte aufzugeben. Ihnen blieb meist nur ein eiliger Verkauf ihrer Lagerbestände – häufig zu geringen Preisen. Nur wenige jüdische Kunsthändler erhielten nach August/September 1935 Sondergenehmigungen, darunter auch Paul Graupe. Er konnte bis 1937 versteigern, bis auch sein Geschäft von Hans W. Lange „arisiert“ wurde und er nach Frankreich floh.
Graupes Auktion im Januar wurde als bedeutendes Auktionsmarktereignis kommuniziert. Fülle, Bandbreite und Qualität des Angebots beeindruckten. Die Presse, insbesondere die „Weltkunst“, berichtete ausführlich und freute sich über „erstklassige Ware“ zu einer Zeit der „deutlich erwachenden Kauflust“. Aufgelöst wurden drei bedeutende Galerien, die dem 1912 gegründeten Margraf-Konzern angehörten, damals das größte Berliner Kunsthandelskonsortium: Die 1918/19 gegründete Galerie van Diemen steuerte hochkarätige Gemälde alter Meister bei, die 1917 gegründete Altkunst GmbH Antiquitäten und Grafik und die 1926 gegründete Otto Burchard & Co GmbH ostasiatische Kunstwerke (Abb. 2).

Böhler kaufte ein kleines französisches Elfenbeinrelief von 15 x 8 cm, das er mit „Maria & 2 Engelfiguren unter einem Maßwerkbogen stehend (Hälfte eines Diptychons)“ erfasste und das im Auktionskatalog als ein Werk von 100 auf Tafel 45 abgebildet war. Datiert ist es auf Anfang des 14. Jahrhunderts.

Laut der Karteikarte gab es ein Gutachten des Kunsthistorikers Otto von Falke (1862 -1942), doch hat sich dieses leider nicht erhalten. Äußerst kurios liest sich die Bleistift-Notiz, dass es sich im „Klosettkasten“ befand. (Vgl. Abb. 1) Was hat dies zu bedeuten? Wir können es (derzeit noch) nicht deuten.

Neben der Objektkartei hat sich im Archiv der Kunsthandlung Böhler allerdings noch eine Fotokartei mit einer qualitätvollen Aufnahme erhalten.

Böhler, der das Relief für 1.176.- Reichsmark erworben hatte, konnte es gut zwei Jahre später, am 28. Februar 1937, weiterverkaufen. Fräulein Niehues aus Nordhorn erwarb den Teil des Diptychons für 1.800.- Reichsmark. Vermutlich handelte es sich um eine der vier Töchter des Nordhorner Unternehmers Bernhard Niehues (1868–1950), der 1897 das Textilunternehmen „Niehues & Dütting“ gegründet hatte. Dieses wurde später in „NINO“ umbenannt und existierte bis 1995. Jahrzehntelang gehörte es zu den zehn größten Textilunternehmen in Deutschland.

Bevor Böhler das Objekt an Fräulein Niehues verkaufte, hatte er bereits dreimal vergeblich versucht, es für eine höhere Summe zu veräußern: an Brügelmann (Köln), Steinmeyer (Berlin) und Homburger (Marburg). Während er es Letzterem am 21. November 1936 noch für 3.500.- Reichsmark offerierte (fast die dreifache Ankaufssumme), bot er es nur wenig später für etwa die Hälfte Fräulein Niehues an, die es schließlich kaufte (Abb. 5). So ging das Geschäft schlechter aus, als Böhler es erhofft hatte.

Wo sich das Elfenbeinrelief heute befindet, ist unbekannt. Vergleichsobjekte sind selten und befinden sich in bedeutenden Museen weltweit (Louvre Paris, Walters Art Museum Baltimore, Ashmolean Museum Oxford). Für unser Relief existiert seit 2005 unter der ID 308618 eine Suchmeldung im offiziellen Register www.lostart.de (Abb. 6). Dort werden Kulturgüter verzeichnet, die öffentlichen Einrichtungen oder privaten Personen und Institutionen infolge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges verloren gingen. Als Ansprechpartner wird in der Datenbank die Kanzlei „Utopia Law Firm“ genannt, die die Erben von Rosa (1877 –1943) und Jacob Oppenheimer (gest. 1941) vertritt. Sie hatten den Margraf-Konzern geerbt, nachdem der Geschäftsinhaber Albert Loeske 1929 verstorben war. Bereits Ende März 1933 waren sie nach Frankreich geflohen, von wo sie keinen Zugriff mehr auf ihre Firmenkonten oder Verkaufserlöse hatten. Ihr Schwiegersohn Ivan Bloch übernahm die Geschäfte in Berlin. Ihr Leben endete tragisch: Jacob Oppenheimer verstarb nach Internierung 1941 in Nizza, seine Frau Rosa wurde ins Lager Drancy verbracht, nach Auschwitz deportiert und 1943 ermordet.

Aufgrund unserer Recherchen informierten wir die Rechtsanwälte sowie das Team von lostart, um ihnen und damit den Erben Oppenheimers zu helfen, zu fairen und gerechten Lösungen zu kommen. Doch handelte es sich tatsächlich um einen verfolgungsbedingten Verlust? Forschungsergebnisse, die unter anderem im ersten vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste (DZK) herausgegebenen Band „Provenire“ publiziert wurden, werfen neue Fragestellungen auf: Ein Arbeitskreis aus Provenienzforscher*innen in Hamburg, München und Berlin fand nach intensivem Quellenstudium heraus, dass der Konzern Margraf & Co. infolge von Kreditaufnahmen, schlechtem Management und aufgrund der Weltwirtschaftskrise ab 1929 in eine wirtschaftliche Schieflage geraten war, so dass er seine Erbschaftssteuerforderungen nicht mehr bezahlen konnte und es zu Pfändungen kam. Im Oktober 1933 wurden die Warenbestände der letzten drei Kunsthandelsfirmen an das Bankhaus Jacquier & Securius sicherheitsübereignet. Der Erlös mehrerer Auktionen tilgte die Bankschulden. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Versteigerung im Januar 1935 nicht als verfolgungsbedingt einzustufen sei (Ilse von zur Mühlen, Die Kunsthandlung Van Diemen & Co. Aus der Geschichte des Konzerns Margraf & Co., in: Provenienzforschung in deutschen Sammlungen, hrsg. vom DZK, Magdeburg 2019 [Provenire, Bd. 1], S. 209-216).

Trotz dieser Erkenntnisse blieb der Eintrag in der ebenfalls vom DZK verantworteten Datenbank „lostart“ bestehen und damit auch die offensichtlichen Widersprüche in Bezug auf die Margraf-Liquidation. Wie lassen sich diese auflösen? Was wird passieren, wenn das Elfenbeinrelief wiederauftaucht? Wäre es dann ein Fall für die „Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz“? Allerdings wohl nur, wenn es sich heute in einem Museum der öffentlichen Hand befindet. – Ungeachtet des gewachsenen Wissens bleibt die Situation für alle unbefriedigend.

Dies war die 2. Nachricht aus dem Archiv Julius Böhler, Fortsetzung folgt …

Dr. BIRGIT JOOSS ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Projektleiterin des Forschungsprojekts „Händler, Sammler und Museen: Die Kunsthandlung Julius Böhler in München, Luzern, Berlin und New York. Erschließung und Dokumentation der gehandelten Kunstwerke 1903-1994“.