Leon Krause über Mela Escherich (1877–1956) und die Mystik Jawlenskys

„Ueber Zweck, Notwendigkeit, Naturwahrheit, mit einem Worte über das Wesen der Kunst werden die Meinungen ewig gegeneinander stehen, solange wir uns nicht eingehender mit dem Wesen der Natur beschäftigen. Nicht der uns umgebenden, sondern unsrer eignen“, so zumindest formuliert es die deutsche Kunsthistorikerin Mela Escherich in ihrem Artikel Kunst als Offenbarung der Natur (Mela Escherich: Kunst als Offenbarung der Natur, in: Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaften, Heft 3, München 1903, S. 270-274, 308–318, hier: S. 270, https://doi.org/10.11588/diglit.47725.61). Vor dem Hintergrund einer solchen Betonung der eigenen Gefühlswelt, die bis hin zu einer Überhöhung ins Mystische reicht, sollte es nicht verwundern, dass sie den Expressionismus als eine persönliche Erleuchtung empfand. Besonders das Werk des russisch-deutschen Malers Alexej von Jawlensky (1864–1941) spielt dabei eine wichtige Rolle. Escherich und Jawlensky verband, wie wir später sehen werden, eine Freundschaft, die weit über die bloße gegenseitige Anerkennung hinausging.

Foto des Gesichts einer Frau. Sie schaut schräg nach oben und lächelt leicht.
Abb. 1: Porträt Mela Escherichs, um 1930, Jana Dennhard: Der Maler Alexej von Jawlensky und die Kunsthistorikerin Mela Escherich, in: Roman Zieglgänsberger/ Jana Dennhard (Hg.): Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden, München 2021, S. 366

Mela Escherich (Abb. 1) (eigentlich Emilie Welzhofer) kam als Tochter eines Historikers und einer Schriftstellerin in München zur Welt. Nach ihrer erfolgreichen Promotion und dem Umzug in die hessische Kurstadt Wiesbaden publizierte sie, wie bereits ihre Mutter, unter deren Mädchenname Escherich und schrieb unter anderem für den Kulturteil der Wiesbadener Zeitung Nassovia sowie für renommierte kunsthistorische Fachzeitschriften wie Die Kunst für Alle, Der Cicerone oder die Kunstchronik. Zugleich war sie die erste, die das berühmte Werk Das fließende Licht der Gottheit, der christlichen Mystikerin Mechthild von Magdeburg aus dem 13. Jhdt. ins Neudeutsche übersetzte (Berlin 1909). Neben Rezensionen aktueller Wiesbadener Ausstellungen lag ihr Hauptaugenmerk auf der Verbindung von Kunst, Mystik und Natur, wobei sie Kunstwerke vom Mittelalter bis in ihre Gegenwart behandelte. Ergänzend verfasste sie Künstlermonografien und -bibliografien, wie z.B. zu Matthias Grünewald (Straßburg 1914) oder zu Hans Baldung (Straßburg 1916). Dabei thematisieren viele ihrer Schriften Mythen, Sagen und Märchen und untersuchen, wie sich diese auf die Kunst auswirken.

In ihrem Naturverständnis ist der Mensch nur ein Teil der Welt. Auf gleiche Weise ist auch die Kunst aufs Engste mit der Natur verbunden. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und erklärt, dass alle Kunst- und Stilformen reiner Ausdruck von Naturformen seien, denn „Der Mensch erfand sie nicht, er fand sie.“, doch „Er fand sie nicht in der Natur: er fand sie in sich: weil er Teil vom Ganzen ist.“ (Mela Escherich: Natur und Kunst, in: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, Heft 6, München 1937, S. 157, 163, hier: S. 157, https://doi.org/10.11588/diglit.16484.45).

Die Schriften Escherichs heben einen Aspekt immer wieder hervor: „Kunst ist Empfindungsäusserung.“ (Escherich, 1903, S. 270). Um als solche bis in alle Ewigkeit zu überdauern, muss sie über die Darstellung des Sichtbaren hinausgehen, sich nach Innen richten und die Betrachter*innen dieses Innere erleben lassen. In ihrem Aufsatz Kunst und Mystik aus dem Jahr 1931 formuliert sie ihre Gedanken zur Vollendung der Kunst: „Sie beginnt eigentlich erst da, wo sie aufhört.“ (Mela Escherich: Kunst und Mystik, in: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, Heft 12, München 1931, S. 364-366, 378, hier: S. 366, https://doi.org/10.11588/diglit.16478.100).

Foto einer Seite aus einem Buch. Es ist nur Text zu sehen.
Abb. 2: Der Beginn von Mela Escherichs Artikel Kunst und Mystik aus der Zeitschrift Die Kunst für Alle, München 1931, https://doi.org/10.11588/diglit.16478.100 [zuletzt abgerufen am 07.08.2024].

Eben jener Artikel (Abb. 2) findet auch in einem Brief Jawlenskys an Escherich Erwähnung. Der Maler berichtet, dass er den Text bereits zum wiederholten Male lese und lobt Escherichs Überlegungen (Jana Dennhard: Der Maler Alexej von Jawlensky und die Kunsthistorikerin Mela Escherich, in: Roman Zieglgänsberger/ Jana Dennhard (Hg.): Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden, München 2021, S. 365-371, hier: 367). Bemerkenswert ist, dass die Kunsthistorikerin neben den in ihren Texten immer wiederkehrenden Malern wie Matthias Grünewald oder El Greco auch Alexej von Jawlensky als einen Meister der „mythischen Vision“ bezeichnet (Escherich 1931, S. 364).

Als Jawlensky 1922 nach Wiesbaden kam, freundeten sich die beiden schnell an und führten einen regen intellektuellen Austausch, der aus zahlreichen Briefen und Widmungen ersichtlich wird. Da Jawlensky zu dieser Zeit noch nicht etabliert war und trotz einiger Ausstellungen unter Geldproblemen litt, versuchte Mela Escherich den Maler einem breiteren Publikum bekanntzumachen, indem sie immer wieder Artikel über ihn schrieb. Selbst dann noch, als der Künstler im NS-Regime bereits öffentlich diffamiert worden war. Weiter engagierte sie sich in der von Hanna Bekker vom Rath (1893–1983), gegründeten Gesellschaft der Freunde der Kunst von Alexej von Jawlensky und unterstützte ihren Freund so auch finanziell. Zum Dank erhielt sie mehrere Werke Jawlenskys, teilweise mit persönlichen Widmungen. Einer der berühmten Abstrakten Köpfe Jawlenskys zeigt laut seinem Titel sogar das Antlitz Escherichs (Abb. 3).

Gemälde. Ein Gesicht einer Frau, nur mit wenigen groben Strichen gemalt. In Brauntönen.
Abb. 3: Alexej von Jawlensky, Abstrakter Kopf: Bildnis Mela Escherich, 1927, Öl auf Pappe, 42,6 x 32,6 cm, Alexej von Jawlensky artist QS:P170,Q156426, Alexej von Jawlensky – Abstrakter Kopf, Bildnis Mela Eschrich, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Für die Kunsthistorikerin vermutlich eine ganz besondere Ehre, waren es doch genau diese Abstrakten Köpfe, die sie für besonders meditativ, mystisch und visionär hielt (Dennhard 2021, S. 366).

Escherich pflegte aber nicht nur zur Familie Jawlensky engen Kontakt, sie war in der Wiesbadener Kunstszene gut vernetzt; Künstler wie Hans Völcker (1865–1944) oder James Pitcairn-Knowles (1863–1954), aber auch Persönlichkeiten aus dem Museumsbetrieb wie Clemens Weiler (1909–1982) zählten zu ihrem engen Bekanntenkreis. Zusammen mit letzterem, dem späteren Direktor des Museums Wiesbaden, erhielt Escherich auch den Auftrag zur Neuordnung der Museumssammlung. Trotz ihrer guten Kontakte gelang es ihr nur mit mäßigem Erfolg, das Werk Jawlenskys in der Nachkriegszeit populär zu machen. Nach dem Tod des Malers war es ihrer Expertise zu verdanken, dass die weit verstreuten Werke des Malers wiederaufgefunden werden konnten. Sie selbst arbeitete lange Zeit an einer Jawlensky-Biografie inklusive eines umfangreichen Werkkatalogs. Auch wenn das Projekt bis zu ihrem Tod 1956 nicht finalisiert werden konnte, flossen wohl aber viele der Ergebnisse in spätere Forschungsbeiträge ein (Dennhard 2021, S. 369).

Mela Escherich hat aus heutiger Sicht durch ihre Schriften und ihr Engagement entscheidend zur Rezeption von Jawlenskys Werk beigetragen. Umso bedauernswerter ist es, dass ihre kunsthistorischen Forschungen heute kaum mehr wahrgenommen werden. Man sollte Escherich daher nicht weiter nur als eine von Jawlenskys „Nothelferinnen“ betrachten, denn so verschließt man die Augen vor dem umfangreichen Schriftwerk einer scharfsinnigen und unbeirrbaren Kunsthistorikerin.

LEON KRAUSE ist studentische Hilfskraft am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Teil der Onlineredaktion.

Die Bibliographie erfasst für den Zeitraum bis um 1930 systematisch Texte von Frauen, die über Kunst und Kunstgeschichte schreiben. Ziel ist es, die Schriften dieser Autorinnen nach und nach digital zugänglich zu machen. Sie sollen so im kunsthistorischen Kanon sichtbarer und leichter verfügbar werden. Zugleich werden deren Breite und Vernetzung, aber auch Hürden und Grenzen erkennbar.

Hannah Rathschlag über die Künstlerin und Literatin Mary Eliza Haweis (1848–1898) und (guten) Kunstgeschmack im Viktorianischen Zeitalter in England

„Every style has a beauty and interest of its own; […] is worthy attention, and is sure to teach us something”. Diese Aussage formulierte Mary Eliza Haweis in dem Vorwort ihres Buches Beautiful Houses. Being a Description of certain well-known Artistic Houses (1882), wodurch ihre reflektierte und präzise Beobachtungsgabe widergespiegelt wird.

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Sarah Debatin über Helen Zimmern (1846–1934), Nietzsches englische Freundin

„Komisch! Man hat gut sich wehren gegen Frauen-Emancipation: schon ist wieder ein Musterexemplar eines Litteratur-Weibchens bei mir angelangt, Miss Helen Zimmern,“ schreibt der bekennende Frauenfeind Friedrich Nietzsche 1886 aus Sils Maria an seinen ebenfalls schriftstellerisch tätigen, langjährigen Freund Peter Gast (eigentlich Heinrich Köselitz, 1854–1918). (Mario Leis: Frauen um Nietzsche, Hamburg 2000, S. 100) Neun Wochen verbringen Nietzsche und Zimmern als Tischnachbarn und auf Spaziergängen in regem Austausch, und auch in späteren Jahren treffen sie in dem Schweizer Kurort immer wieder aufeinander. Auf Nietzsches dringenden Wunsch hin ist Helen Zimmern auch diejenige, die, zunächst zögerlich, zwei seiner Werke ins Englische übersetzt und ihm so zu größerer Bekanntheit in Großbritannien verhilft. Über sein Verhalten gegenüber Frauen schreibt sie später im Rückblick: „Es gibt anscheinend Männer, die über die Frauen Theorien haben, die sie kaum in die Praxis übersetzen.“ (ebd.)

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Sarah Debatin über Luise von Kobell

Vielen schreibenden Frauen des 19. Jahrhunderts blieb fachliche und gesellschaftliche Anerkennung zeitlebens versagt. Eine rühmliche Ausnahme ist die Münchner Schriftstellerin Luise von Eisenhart (1828–1901), die unter ihrem Geburtsnamen Luise von Kobell nicht nur Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften wie die Allgemeine Zeitung, Über Land und Meer und die Fliegenden Blätter, sondern auch monographische Schriften zu kunst-, literatur- und kulturhistorischen Themen verfasste. Sie entstammte der bekannten Künstler- und Beamtenfamilie Kobell und genoss eine hervorragende Ausbildung für eine Frau ihrer Zeit. Im Gefolge König Ottos verbrachten Luise und ihre Eltern 1834 ein Jahr in Griechenland. Luises Vater, Franz von Kobell (1803–1882), war u.a. Schriftsteller und als Geologe Mitarbeiter und ab 1880 Leiter der Mineralogischen Staatssammlung. Ihre Heirat mit August von Eisenhart (1826–1905), einem Juristen, der schnell die politische Karriereleiter erklomm und Kabinettssekretär König Ludwigs II. wurde, festigte ihren Status. Bezeichnenderweise begann Luise von Kobell mit dem Schreiben erst, nachdem die Kinder erwachsen waren und ihr Mann sich aus seinen öffentlichen Ämtern zurückgezogen hatte.

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Alexandra Avrutina über Emilie Bach: zwischen Anpassung und Grenzüberschreitung

„Nun aber gehen die Verirrungen gegen das Stylrichtige und Vernünftige weiter. Nicht genug damit, dass sich Frauen der Täuschung hingeben, Zeichnerinnen und Malerinnen zu sein, sind sie mitunter so kühn und unternehmend und möchten so nebenbei auch ‚Bildhauer‘ sein“ (Emilie Bach: Die weibliche Handarbeit. Vortrag … gehalten in Reichenberg am 22. September 1880, Reichenberg 1880, S. 15).

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Ricarda Vollmer über Maria Callcott und Herausforderungen an die Kunstgeschichte

Wie verändert sich die Kunstgeschichte, wenn die frühen Schriften von Kunsthistorikerinnen stärker rezipiert würden? Diese Frage stellten sich K. Lee Chichester und Brigitte Sölch in ihrer Anthologie Kunsthistorikerinnen. 1910–1980 (Berlin 2021, S. 34). Und weiter heißt es: „Nur indem vergessene Akteurinnen […] adressiert werden, lässt sich ein tiefergehendes und polyperspektivisches Verständnis für die Geschichte und Gegenwart der Disziplin wie auch der Künste gewinnen“ (ebd.). Ebensolche vergessenen Akteurinnen der Disziplin und ihre Schriften möchte eine Forschungsdatenbank, die in Zusammenarbeit mit der Universitäts-bibliothek Heidelberg und dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte entstanden ist, sichtbar machen.

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Ann-Kathrin Fischer über die schreibenden Töchter der Familie Patin

Mit aufmerksam-interessiertem Blick wendet sich die achtzehnjährige Carla Caterina (1666–1744) ihrem Vater Charles Patin (1633–1693) im Gespräch zu. Daneben sitzt ihre Mutter Madeleine (1642–1722), selbst Schriftstellerin, die in der linken Hand ein Medaillonbildnis ihres Schwiegervaters Guy Patin hält. Rechts davon ist die ältere, neunzehnjährige Schwester Gabriella Carla (1665–1751) platziert. Noël Jouvenet (1650–1698) hat dieses Familienbildnis 1684 gemalt. Heute verschollen, ist das Gemälde durch einen Stich des Joseph Juster (um 1690 in Venedig tätig) überliefert (Abb. 1), der 1691 in dem aufwendig illustrierten Folioband Tabellae selectae ac explicatae bzw. Pitture scelte e dichiarate von Carla Caterina Patina publiziert wurde. Die Druckgrafik stellt zugleich das einzig dokumentierte Porträt der Autorin dar.

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Annalena Brandt über Kunst für Alle… aber nicht von allen

Nachdem es zu Beginn des 20. Jahrhunderts so aussah, als ob schreibende Frauen in der Kunstwelt endlich (wenigstens etwas) anerkannt wurden, mussten ab 1907 zumindest in der Kunstzeitschrift Kunst für Alle (KfA) erhebliche Rückschläge hingenommen werden. Waren ab dem 2. Jahrgang 1887/88 insgesamt 14 Schriftstellerinnen mit mehr als 60 Artikeln vertreten, lässt sich nach dem 23. Jahrgang ein schlagartiger Rückgang feststellen. 1907/08 war erstmals seit 20 Jahren kein einziger Artikel einer Frau zu lesen, in den folgenden Jahren sah es kaum besser aus: 1908/09 durfte die davor rege tätige Clara Ruge (1856–1937) eine Spalte über die Kunstausstellung in New York schreiben, 1909/10 Frida Erdmute Vogel (1876–?) einen Artikel zum schwedischen Künstler Bruno Liljefors (1860–1939). Bis 1924/25 waren nur vier weitere Kunsthistorikerinnen mit je einem Artikel vertreten: Anna Spier (1852–1933) 1914/15, Dr. Hildegard Heyne (1878–1964) 1915/16, Dr. Frida Schottmüller (1872–1936) 1916/17 und Dr. Betty Kurth (1878–1948) 1924/25. Dafür durfte Mina Gedon über die Entstehung ihres Porträts von Wilhelm Leibl anekdotisch sinnieren (40. Jg. [1924/25], S. 97–99). Diese Tendenz lässt sich in anderen Zeitschriften nicht beobachten. Im Gegenteil: Druckte die Kunst für Alle von 1885 bis 1906 drei bis 30 Mal mehr Artikel von Frauen als andere Zeitungen und Zeitschriften, war sie in den Jahren 1907 bis 1924/25 mit sieben Texten im Vergleich zu Kunstchronik (31, seit 1918 Kunstchronik und Kunstmarkt), Deutsche Kunst und Dekoration (31) und Kunst und Handwerk (10) Schlusslicht.

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Hanna Lehner zu Félicie d’Ayzac: Eine Frau auf dem Dach von Saint-Denis

Drinnen wirkt es beengt, es ist dunkel (Abb. 1). Die Wiege zu Füßen, der Rosenkranz in der Hand und die Marienstatue an der Wand signalisieren den konventionell begründeten ‚Zuständigkeitsbereich‘ der sitzenden jungen Frau, die sehnsüchtig durch das Fenster nach draußen blickt. Dort hingegen ist alles licht und luftig, in der Ferne zeichnet sich angeschnitten die Silhouette der Kathedrale von Saint-Denis ab. Eine starke Böe bringt aber auch Bewegung ins Zimmer und bläht sogar die schweren Vorhänge auf. Die Lithographie erschien 1833 in dem Gedichtband Soupirs poétiques (Poetische Seufzer), bei der Dargestellten handelt es sich um die Verfasserin Félicie d’Ayzac. Sie wird aufstehen und nach draußen gehen.

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„…aus dem Aluminium ihrer Todesflügel hätte man die Kochtöpfe herstellen können…“ Ursula Ströbele über Juliane Roh zwischen Kunstgeschichte und politisch-feministischem Engagement

Teil 2

Juliane Roh (Abb. 3) prangert in ihren Texten wiederholt die Zwangsrekrutierung der Frauen während des Krieges an, die „zum Arbeitssklaven männlich militärischer Interessen“ erniedrigt wurden bei gleichzeitiger Instrumentalisierung im Zuge der nationalsozialistischen Fortpflanzungspolitik. „Alles, was ihr der Gleichberechtigungskampf mühsam erworben hatte […], hat ihr der Staat wieder genommen.“ (Der Krieg und die Frauen, 2) Aus Selbstschutz habe sich die Frau auf ihre Rolle der Ehefrau und Mutter zurückgezogen bzw. habe versucht, männliche Eigenschaften zu adaptieren. Weshalb sie fordert: „Es kommt heute also darauf an, dass wir die weibliche Emanzipation vollenden, indem wir sie an ihren Ursprung zurückführen. […] das bedeutet zu den Müttern. Wir müssen heute den einzigen Typ der Frau, der noch nicht emanzipiert ist, zu befreien trachten, den mütterlichen.“ (Die Frau der Zukunft, 13).

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„…aus dem Aluminium ihrer Todesflügel hätte man die Kochtöpfe herstellen können…“ Ursula Ströbele über Juliane Roh zwischen Kunstgeschichte und politisch-feministischem Engagement

Teil 1

Seit 2015 bzw. 2016 vergibt das Zentralinstitut für Kunstgeschichte jährlich zwei Juliane und Franz Roh-Stipendien am Studienzentrum zur Kunst der Moderne und Gegenwart für Promovierende und Postdoktorand*innen. Seinen Namen verdankt das Stipendium dem Ehepaar Roh, die beide in München lebten. Franz Roh (1890 Apolda–1965 München) war als Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Künstler tätig, promovierte 1920 bei Heinrich Wölfflin und publizierte zu unterschiedlichen Themen vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. 1946 heiratete er Juliane Bartsch (1909 Duisburg–1987 München), die in Heidelberg Kunstgeschichte, Philosophie und Archäologie bei August Grisebach, Karl Jaspers und Arnold von Salis studierte und dort 1934 promoviert wurde (Figur und Landschaft: eine Untersuchung ihrer Beziehungsformen im italienischen Kunstbereich des 16. und 17. Jahrhunderts). Die beiden ersten und kommenden Blogtexte möchten einen Einblick in ihre kunsthistorische Tätigkeit geben (Abb. 1), zur Frau als Bildender Künstlerin und explizit zu den Bildhauerinnen des 20. Jahrhunderts sowie hier vorliegend in ihr schriftstellerisch-politisches Engagement. Ein besonderer Dank gilt Richard Hampe, der den Nachlass verwaltet und bei der Sichtung der Archivunterlagen große Unterstützung leistete. Die meisten Datierungen der hier genannten Texte und deren etwaige Publikationsorgane sind bislang unbekannt; weitere Recherchen erfolgen in diesem work in progress.

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Hannah Goetze über Clara Erskine Clement Waters und (digitale) Nachschlagewerke gegen das Vergessen

Beim Sichten der Publikationen von Clara Erskine Clement Waters fällt ihre Vorliebe für das Handbuch und das Lexikalische auf: Neben dem Handbook of Legendary and Mythological Art (1871; im Folgenden abgekürzt als HLMA) finden sich unter anderem Painters, Sculptors, Architects, Engravers, and their Works (1874), Artists of the Nineteenth Century and their Works (1879), die dreibändigen Hand-Books of Painting, Sculpture, and Architecture (1883–86) sowie Women in the Fine Arts, from the Seventh Century B.C. to the Twentieth Century A.D. (1904) unter ihren Werken. Auch wenn die enzyklopädische Form ihre Schriften eint, verneint sie einen Anspruch auf nachschlagbare Vollständigkeit oft bereits in der Einführung: „My present limits allow but an imperfect and superficial consideration of this subject“ (HLMA, S. 1; zitiert wird nach der 14. Auflage, Boston 1881). Zu Erskine Clement Waters selbst etwas zu finden, ist dann passenderweise abermals nur über Handbucheinträge möglich, die sich auf konkrete Eckdaten ihres Lebens konzentrieren (Geburt: 1834; Tod: 1916; Heirat: 1852, mit James Hazen Clement; erneute Heirat, nach dessen Tod: 1881, diesmal mit Edwin Forbes Waters), aber jenseits der Nennung der Vielzahl ihrer Publikationen (neben den oben genannten u.a. noch ein Roman, später auch Reiseberichte) kaum auf ihr Werk eingehen.

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