Ein Blick in das Archiv Böhler: Katharina Roßmy über einen Wandteppich aus Berlin, eine Puppenmacherin aus Hollywood und eine Gastronomen-Familie aus Breslau

Was auf den ersten Blick wie eine normale Kommissionskarte mit unverfänglichen Provenienzangaben aussieht, verbindet letztlich einen Berliner Wandteppich mit einer Puppenmacherin aus Hollywood und einer Gastronomen-Familie aus Breslau. Ausgehend von einer Tapisserie richtet sich das Spotlight auf die Schicksale der jüdischen Kunstsammlerin Johanna Ploschitzki / Hansi Share und der jüdischen Familie Kempinski.

Im August 1951 gibt Hansi Share (1887–1981) aus Hollywood eine wertvolle Tapisserie (Abb. 1) der Berliner Manufaktur aus dem Jahr 1750 bei der Kunsthandlung Julius Böhler in München in Kommission ( Abb. 2). Neben der Vorbesitzerin fällt auch ein Vermerk in der Provenienzliste auf: Nachdem die Tapisserie 1941/42 in Berlin verauktioniert worden war, fand man sie 1950 im Speisesaal des Restaurants Kempinski wieder.

Foto (schwarz/weiß) eines Wandteppichs aufgeklebt auf eine graue Fotomappe
Abb. 1: Fotomappe „Gesellschaft im Garten“, ZI München/Photothek, Archiv Julius Böhler, Fotomappe K_045_51
Abb. 2: Karteikarte zum Wandteppich von Hansi Share, ZI München/Photothek, Archiv Julius Böhler, Karteisystem Kommission, Fotomappe K_045_51

Der Name Kempinski in Berlin geht auf den Gastronomen Berthold Kempinski (1843–1910) zurück. Ursprünglich aus dem preußischen Posen, mit einem Zwischenstopp in Breslau, ließ sich Kempinski in Berlin nieder und eröffnete dort 1872 einen der größten Weinkeller der Stadt, mit welchem er den Grundstein für eine bis heute andauernde Unternehmensgeschichte legte. Weitere erfolgreiche Restaurants folgten, darunter auch ab 1928 das berühmte Erlebnisrestaurant Haus Vaterland (Abb. 3) am Potsdamer Platz.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 läutete das Ende des Unternehmens der deutsch-jüdischen Familie Kempinski ein. Ein großer Teil der oft schon betagten Familienmitglieder konnte das Land verlassen. Walter Unger (1894–1944), der Schwiegersohn des Firmengründers, der als letzter Kempinski-Gesellschafter in Deutschland verblieben war, wurde im KZ Oranienburg interniert. Er wurde 1937 zunächst wieder entlassen, um die „Arisierung“ des Unternehmens abzuwickeln. Anfang 1943 wurde er von der SS ins KZ Theresienstadt deportiert und 1944 im KZ Ausschwitz ermordet (Attia, Iman: Die Familie Kempinski, in: Verwobene Geschichte*n, URL:
https://thelivingarchives.org/verwobenegeschichten/menschen/familie-kempinski/index.html [Aufruf 17.04.2024]). Nach Kriegsende kehrte ein Enkel von Berthold Kempinski, Friedrich Wolfgang Unger-Kempinski (1901–1955), nach Deutschland zurück und versuchte, das Familienunternehmen wiederaufzubauen. Die Immobilien der Familie hatten das Kriegsgeschehen nicht überstanden, 1950 erhielt er aber ein Grundstück am Kurfürstendamm 27 (das ehemalige Restaurant der Kempinskis war im Krieg dort abgebrannt) zurück, auf welchem 1952 das Hotel Kempinski seine Tore öffnete (vgl. Hotel Bristol: Unsere Geschichte, URL: https://www.bristolberlin.com/de/unsere-geschichte/ [Aufruf 17.04.2024]). Der berühmte Familienname blieb auch nach Unger-Kempinskis frühem Ausscheiden aus dem Unternehmen das Aushängeschild der Hotelkette.

Wie jedoch kam die Tapisserie von Hansi Share in den Speisesaal des Kempinski?

„Ich kannte sie, als sie noch Hansi Ploschitzki hieß“, schrieb 1945 der deutsche Journalist Ferdinand Kahn in der jüdischen Exilzeitschrift Aufbau in New York. Eine der „elegantesten und verwöhntesten Frauen in Berlin“ soll sie gewesen sein, Johanna Ploschitzki – später Hansi Share, die als Puppenmacherin berühmt wurde (Kahn, Ferdinand: Hansi Share und ihre ‘MillionenDollarBabeDoll‘, in: Aufbau, 11. Jahrgang, Nummer 23, New York 8. Juni 1945, Seite 16–17, S. 16). 1887 als Johanna Zender (Rufname Hansi) in Berlin geboren, heiratete sie später den vermögenden Kaufmann Hermann Ploschitzki (†1932), mit dem sie in einer herrschaftlichen Villa in Berlin lebte und mit dem sie als Mäzenin auch eine große Kunstsammlung zusammentrug. (Kleibl, Kathrin/Kiel, Susanne: Gerichtsvollzieher als Kunsthändler? Versteigerungen des Übersiedlungsgutes jüdischer Emigrant*innen in Hamburg und Bremen, in: Galler, Christopher Manuel/Meiners, Jochen (Hrsg.): Regionaler Kunsthandel: Eine Herausforderung für die Provenienzforschung?!, Heidelberg: arthistoricum.net, 2022 (Veröffentlichungen des Netzwerks Provenienzforschung in Niedersachsen, Band 3), S. 270-346, S. 273., https://doi.org/10.11588/arthistoricum.978.c13772).

Auch für die Familie Ploschitzki hatte das Regime der Nationalsozialisten verheerende Folgen. 1935 wurde Johanna Ploschitzki von den NS-Behörden gezwungen, ihre Villa zu verlassen. Im Folgejahr zog die Reichspresseschule in das Haus ein. Als „qualvolle Jahre“ beschreibt Kahn Ploschitzkis Zeit in Deutschland bis zu ihrer Emigration 1939 (Kahn 1945, S.16). Die zunehmenden Repressionen hatten sie dazu bewegt, sich für die Auswanderung in die USA zu entscheiden. Ploschitzki beauftragte 1939 eine Speditionsfirma mit der Verpackung ihres Hausrates und ihrer Kunstsammlung, darunter auch die Tapisserie mit der „Fête galante“, die 1951 bei Böhler eingeliefert werden sollte. Neun Liftvans wurden von Berlin nach Hamburg transportiert, um von dort weiter in die USA verschifft zu werden. Während Ploschitzki im April 1939 sicher in den USA ankam, verblieb ihr Besitz wegen des Kriesgausbruchs im deutschen Hafen. Im Frühjahr 1940 wurde ihr zurückgehaltenes Übersiedlungsgut mit dem tausender anderer Emigrantinnen von der Hamburger Gestapo beschlagnahmt und öffentlich versteigert. Die Versteigerung wurde in der Hamburger Tagespresse und auch überregional beworben, sodass sich eine große Zahl von Händler*innen und Museumsvertreter*innen einfand. Die Tapisserie wurde als „Wandgobelin 500 x 330 um 1750“ für 5800 RM von einem Berliner Teppichhändler ersteigert (Kleibl/ Kiel 2022, S. 277).

In ihrer neuen Heimat Hollywood hatte Johanna Ploschitzki inzwischen den Amerikaner Leon M. Share geheiratet, dessen Nachnamen sie annahm. Nach dem Krieg hatte die britische Militärregierung 1949 ein Rückerstattungsgesetz für Hamburg erlassen, woraufhin auch Johanna Share entsprechende Anträge stellte, um ihre Sammlung zurückzuerhalten. Dank der Bekanntheit ihrer Sammlung und dem detaillierten Versteigerungsprotokoll konnten einige Käufer*innen identifiziert und Rückerstattungsverfahren eingeleitet werden (Kleibl/Kiel 2022, S. 277 und S. 310).
Während dieser Zeit baute sich Johanna Share in Hollywood ein erfolgreiches Puppenstudio auf. Sie erfand Puppenköpfe, in welche die Haare direkt eingelassen wurden. Anders als bei den bisher aufgeklebten Perücken war es so möglich, die Puppenhaare wirklich zu frisieren, was die Produktion von Puppen revolutionierte. Das Interesse an ihrer „Monica Doll“ war bald so groß, dass Share eine kleine Fabrik einrichten konnte (Kahn 1945, S. 16.).

In Deutschland bemühte sich unterdessen Johanna Shares Anwalt, ihr Eigentum zurückzuerhalten. Auf eine Suchanfrage in der Fachzeitschrift Die Weltkunst (Die Weltkunst, JG XIV, Nr. 21, 1.11.1950, S. 12) hin, erhielt er einen Hinweis auf den Verbleib des Teppichs im Restaurant Kempinski – der Fundort, der auch auf der Böhler‘schen Karteikarte vermerkt wird. Dabei handelt es sich jedoch nicht um das, sich im Wiederaufbau befindende Hotel des Kempinski-Nachfahrens Unger, sondern um eine Filiale der Aschinger AG, die nach der Arisierung des Kempinskischen Unternehmens, dessen Geschäfte übernommen hatte. Unter dem renommierten Namen betrieb die AG einen Delikatessenladen mit angeschlossenem Restaurant in der Schlossstraße, direkt am Steglitzer Rathaus (Abb. 4).

Unter abenteuerlichen Umständen konnte Shares Anwalt den Teppich sicher stellen lassen. (LAB, B Rep.025-03Nr.813/50, Ruge an Militärregierungen, 7.11.1950 (Bll 57). Vgl. Reuther, Silke: interner Provenienzbericht Provenienz Wandteppich „Komödienfiguren“ (MK6G Inv. 1952.117)). Warum der Teppichhändler die Tapisserie in dem Restaurant eingelagert hatte, bleibt zunächst nach wie vor unklar. Im Laufe des Jahres 1951 bekam Johanna Share den Wandteppich jedoch letztendlich zurückerstattet und konnte ihn bei Böhler in Kommission geben.

Die sorgfältig aufgelistete Herkunftsgeschichte des Wandteppichs auf der Böhler’schen Karteikarte von 1951 diente primär der internen Dokumentation im Kontext eines erfolgreichen Weiterverkaufs und hatte nicht den Anspruch, tiefergreifende Fragen zu Provenienzen und den beteiligten Akteur*innen zu beantworten. Welche Schicksale sich hinter schlichten Vermerken wie „1941/2 verauktioniert in Berlin“ und „1950 wieder gefunden im Speisesaal bei Kempinsky, Berlin“ verbergen, klärt sich oft erst durch die Vernetzung mit anderen bestandshaltenden Institutionen und ihren digitalen Ressourcen auf, die im Rahmen der Recherchen für die Datenbank zur Kunsthandlung Julius Böhler erfolgt. Auch wenn weiterhin Teile der Geschichte im Dunkeln bleiben, kann zumindest ein „Spotlight“ auf die einzelnen Objekt- und Sammlerinnenbiographien, Transaktionen und -lokationen geworfen werden.

KATHARINA ROSSMY, M.A., ist wissenschaftliche Hilfskraft am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und als solche an dem Projekt Händler, Sammler und Museen: Die Kunsthandlung Julius Böhler in München, Luzern, Berlin und New York. Erschließung und Dokumentation der gehandelten Kunstwerke 1903-1994 beteiligt.

Anna-Lena Lang über das tragische Ende der Kunst- und Antiquitätenhandlung H. Bauml

Die Karteikarten der Kunsthandlung Julius Böhler verraten nicht nur viel über den deutschen und europäischen Kunsthandel des 20. Jahrhunderts. Manchmal geben sie auch einen Einblick in die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zur Zeit ihrer Erstellung und machen dadurch neben wirtschaftlichen Fakten auch persönliche Schicksale sichtbar.

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Theresa Sepp über eine Diplomatensammlung und koloniale Kontexte

Im Zentrum der Erforschung des Archivs der Kunsthandlung Julius Böhler steht die Klärung von Provenienzen im Hinblick auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Doch öffnen sich im Rahmen der Erschließung des Karteiensystems auch Perspektiven auf andere Kontexte der Translokation, des Handels und auch Raubes von Kulturgütern.

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Theresa Sepp über „Schöner Wohnen“ am Prinzregentenplatz

Das Karteiensystem der Kunsthandlung Julius Böhler war nicht dafür gedacht, für Außenstehende auf Anhieb verständlich zu sein. Üblicherweise dokumentieren die Karteikarten jedenfalls neben Ein- und Ausgangsdatum eines Objektes, An- und Verkaufspreisen sowie Angaben zu Vorprovenienzen oder dem Erhaltungszustand die Namen von Vor- und Nachbesitzer*innen. Manchmal jedoch kommt es vor, dass stattdessen unspezifische – möglicherweise absichtlich nebulöse – Angaben wie „von einem Tändler in Wien“ (auf Karteikarte M_38-0288) oder „hinterm Hotel in Venedig“ (auf Karteikarte M_06-1206) zu finden sind.

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Birgit Jooss über ein Butterbrot für die Neue Pinakothek

Ein goldgerahmtes Gemälde mit dem lapidaren Titel Butterbrot erreichte am 30.7.1929 aus Berlin die renommierte, 1880 gegründete Münchner Kunsthandlung Julius Böhler. Der niederländische Maler Pieter de Hooch (hier: Hoogh, 1629 – um 1679) wird als Maler des Butterbrots genannt, Baron Thyssen (1875 – 1947) als Besitzer. Insider des Böhler‘schen Karteiensystems erkennen, dass die rosa Farbe der Karte und die Ziffer 177 29 auf ein Kommissionsgeschäft hinweisen. Rückseitig erfährt man, dass das Bild am 12.6.1930 in der Neuen Pinakothek „abgeliefert“ wurde.

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Birgit Jooss über Hitler als Kunde

Auch Adolf Hitler kaufte bei Julius Böhler. 1934 erwarb er eine klassizistische Skulptur des Schweizer Bildhauers Heinrich Maximilian Imhof (1795–1869): Die marmorne Porträtbüste einer jungen Frau, die ihren Kopf nach unten neigt. Über ihrem welligen Haar trägt sie ein Kopftuch, ihren Oberkörper hat sie in ein einfaches, antikisch anmutendes Gewand gehüllt. Heute wird die 40 cm hohe Büste im Wallraf-Richartz-Museum in Köln als Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland aufbewahrt.

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Birgit Jooss über die „Hälfte eines Diptychons“

Die Objektkarteikarten der Kunsthandlung Julius Böhler dokumentieren nicht nur Transaktionen von Kunstwerken, sondern enthalten auch zahlreiche Informationen über gesellschaftliche und politische Vorgänge. So auch die Karte mit der Nummer 35 –5: Festgehalten ist der Auktionsankauf eines Elfenbeinreliefs am 29. Januar 1935. Stutzig macht eine Eintragung auf der linken Seite. An der Stelle, an der üblicherweise die Provenienzen festgehalten werden, vermerkte Böhler eine Auktion aus Beständen dreier Galerien: „sämtlich in Liquidation“. Hatte man hier etwa unbekümmert rigide Maßnahmen des NS-Regimes notiert? Aber warum? Da der Eingang mit „Auktion Paul Graupe, Berlin Verst. No. 137 25./26.1.35 No. 110“ genau vermerkt ist, lassen sich Versteigerung und Objekt schnell eruieren (Abb. 1).

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Birgit Jooss zu komplizierten Tauschgeschäften der Kunsthandlung Julius Böhler

Die Geschäftsunterlagen der Münchner Kunsthandlung Julius Böhler offenbaren immer wieder Überraschungen. Derzeit werden die Karteikarten der Kunsthandlung in einer Datenbank erfasst, um sie für die Forschung besser nutzbar zu machen. Neben den Herausforderungen, die die manchmal nur schwer lesbaren, handschriftlichen Eintragungen mit sich bringen, geht es auch darum, die Informationen möglichst so aufzubereiten, dass Kunstwerke sowie die in ihren Handel involvierten Akteure eindeutig identifiziert werden können. Da aber die Karteien mit ihren Vermerken der Kunsthandlung nur als internes Nachweisinstrument dienten, die nicht für die Veröffentlichung – etwa in einem Verkaufskatalog – bestimmt waren, sind die Vermerke nicht selten flüchtig und kursorisch notiert. So liest man immer wieder von Museen, die allein durch den Städtenamen gekennzeichnet sind: Museum Hamburg, Museum Stuttgart, Museum Darmstadt oder Museum Karlsruhe. Um welche Institutionen handelt es sich?

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