Russische Creme am Friedensengel: Der Central Collecting Point bei Johannes Mario Simmel

Freigestellt vor einem zitronengelben Hintergrund steht ein kleines Auto mit Ladefläche auf der sechs Männer in weißen Kitteln sitzen. Sie tragen alle hohe weiße Kochmützen. Neben dem Auto steht ein weiterer Mann mit weißem Kittel.
IRIS LAUTERBACH

1960 erschien in Zürich der Roman Es muß nicht immer Kaviar sein des österreichischen Schriftstellers Johannes Mario Simmel (1924–2009). Der Untertitel „Die tolldreisten Abenteuer und auserlesenen Kochrezepte des Geheimagenten wider Willen Thomas Lieven“ spielt auf Honoré de Balzacs Contes drôlatiques an und weckt bei der Leserin, beim Leser die Erwartung anzüglicher Schilderungen unterhaltsamer Liebesabenteuer. In der Tat ist dieser moderne Schelmenroman nicht nur pikaresk, sondern auch pikant. Denn nicht minder virtuos als die Liebeskunst beherrscht der Protagonist Thomas Lieven die Kochkunst. Seine Erfolgsrezepte – von Aal in Salbei bis Zitronen-Soufflé – sind über das Buch verteilt. Als „Geheimagent wider Willen“ gelingt es Lieven, während des Krieges und in der Nachkriegszeit das Leben nach seinem Geschmack zu genießen.

Eine Szene des Romans (Viertes Buch, Kapitel 12-13) spielt im Sommer 1946 in München (Zitate nach der Originalausgabe Zürich 1960). Auf Einladung eines für die Amerikaner arbeitenden Agenten soll Lieven am 16. Juli für eine Party des „CIC“ (Counter Intelligence Corps) kochen, der amerikanischen Spionageabwehr, und zwar in Bogenhausen. Das von Simmel erwähnte Haus, das Adolf Hitler 1936 seiner Geliebten Eva Braun geschenkt hatte, lag beim Böhmerwaldplatz in der Wasserburger Straße (heute Delpstraße) 12 (2015 abgerissen). Als Ort des fiktiven Geschehens gibt Simmel hingegen eine Villa „Ecke Maria-Theresia-/Prinzregentenstraße“ (S. 477) an, unweit des Friedensengels. Heute hätte man dort die Auswahl etwa zwischen dem Gebäude, in dem das Generalkonsulat der russischen Föderation seinen Sitz hat, und der gegenüberliegenden, nicht minder repräsentativen Villa, die vor wenigen Jahren zeitweise durch den flüchtigen, mittlerweile in Russland abgetauchten Wirecard-Manager Jan Marsalek genutzt wurde.

Wahrscheinlich aber meint Simmel den Offiziersklub in der Maria-Theresia-Straße 4a (Abb. 1) oder das Offizierskasino, das die amerikanische Militärregierung in der Maria-Theresia-Straße 8 eingerichtet hatte (Willibald Karl, Karin Pohl: Amis in Bogenhausen, München 1945-1992, München 2015) und in dem 1946 die geltende drastische Rationierung der Ernährung für deutsche „Normalverbraucher“ keine Rolle spielte: „Vollgefressen, wie wir heute sind, erinnern wir uns kaum noch, wie es damals war: Nur 800 Kalorien täglich konnten im Juni 1946 im Ruhrgebiet an ‚Normalverbraucher‘ ausgegeben werden. Im Süden des Landes waren es 950 Kalorien. […] Nur 7 (!) Gramm Fett enthielt noch im September 1947 die ‚Grundration‘. Vorkriegsverbrauch: 110 Gramm. Nur 14 Gramm Fleisch enthielt die ‚Grundration‘ im September 1947. Vorkriegsverbrauch: 123 Gramm.“ (S. 478)

Die Mannschaft von Chefkoch Josef Tombergs: sieben Männer in Kochuniform sitzen auf der offenen Ladefläche eines stehenden Autos. Um 1950
Abb. 1: Die Mannschaft von Chefkoch Josef Tombergs auf dem „Drei-Radler“ vor dem US-Offizierskasino in der Maria-Theresia-Straße 8, Foto: privat

Aushilfskoch wider Willen, gerät Lieven in eine fröhlich tafelnde und zechende internationale Gesellschaft, bestehend aus amerikanischen Agenten mit ihren deutschen Freundinnen, einem rothaarigen Serviermädchen – „Äußerlich war sie sehr rot. Innerlich war sie wohl immer noch braun.“ (S. 481) – und „zwei sehr, sehr attraktive[n] Damen vom sogenannten ‚Art Collecting Point‘ […], die eine in einer französischen Uniform, die andere in einem ein wenig abgetragenen weißen Kleid, auf das bizarre Blumen gemalt waren. Die Dame in der französischen Uniform wurde Mademoiselle Daniella genannt. Thomas kannte sie schon – der Stimme nach. Daniella pflegte in der Pariser Stunde von Radio München die neuesten französischen Chansons vorzutragen – mit vibrierender Schlafzimmerstimme. Die charmante Person war unbestrittener Mittelpunkt der Party. Ihre deutsche Begleiterin stand völlig in ihrem Schatten. Christine Troll hieß das Mädchen mit dem langen, schwarzen Haar, den langbewimperten schwarzen Augen und dem großen Mund. Sie war Sekretärin im ‚Art Collecting Point‘. Von dieser Institution berichtete die Französin die amüsantesten Episoden.“ (S. 480)

Bei den „Episoden“, die „Mademoiselle Daniella“ in der Tafelrunde zum besten gibt, reißt Simmel einige historisch belegte Fälle an: etwa den sogenannten Führerbau-Diebstahl und die Auffindung der gestohlenen Gemälde „als Matratzen-Unterlagen oder Fensterverschalungen“ (S. 480) (vgl. Iris Lauterbach, Der Central Collecting Point in München. Kunstschutz, Restitution, Neubeginn, Berlin/ München 2015, S. 165-168).

„Dieser Roman beruht auf Tatsachenberichten.“ So hielt Simmel im Impressum fest. Woher er die folgende Episode über ein Gemälde von Rembrandt erfahren haben will, ist mir unbekannt: „Natürlich hatten auch die Amerikaner geplündert. Mademoiselle Daniella berichtete vom Erlebnis eines Kunsthändlers in der Maximilianstraße. Bei dem war am Tage nach der Eroberung Münchens ein Sherman-Panzer vorgefahren. Die Panzerleute holten den Kunsthändler auf die Straße und zeigten ihm ein Bild, das sie vorne an den Tank gebunden hatten. Dem Experten erstarrte das Blut in den Adern. Was da auf den schmutzigen, öligen Panzerplatten hing, war nichts anderes als ein berühmtes, in allen Kunstbänden vorzufindendes Rembrandt-Gemälde, das Porträt des Rabbiners von Amsterdam, und zwar das Original. Der Kunsthändler und die Soldaten wurden nicht einig. So fuhren die Sieger mit ihrem Schatz kettenrasselnd davon. Wohin? Das wußte niemand. Der Rembrandt ist nie wieder aufgetaucht…“ (S. 480f.) Ist hier Rembrandts unter der Münchner Nummer 964/22 im Juni 1945 registriertes „Porträt des Rabbiners von Amsterdam“ (70,5 x 53,5 cm, Öl auf Holz, Abb. 2) gemeint? Dieses wurde – anders als Simmel schreibt– im Dezember 1946 durch den Collecting Point an das Museum der Schönen Künste in Budapest zurückgesandt.

Gemaltes Porträt eines sitzenden Mannes vor dicken Büchern und einem Kerzenhalter.
Abb. 2: Rembrandt, Porträt eines Rabbiners, Budapest, Szépművészeti Múzeum, nach: Gabriel de Térey, Museum of Fine Arts. Catalogue of the Paintings by Old Masters, Budapest 1931, Kat. Nr. 540, ZI, Bibliothek
Acht Kunstschutzoffizier*innen auf den Treppen vor einem Haus.
Abb. 3: Die französische Kunstschutzoffizierin Marcelle Minet (zweite von links) mit internationalen „Monuments Men“ vor dem Central Collecting Point, Winter 1945/46, Foto: ZI, Photothek / Archiv
Abb. 4: Thomas Lievens Menü, München, 16. Juli 1946 (Simmel, S. 439)

„Solcherlei Erzählungen ließen Gastgeber und Gäste fröhlich werden.“ (S. 481). Während „Mademoiselle Daniella“, deren Name allenfalls entfernt von der von Dezember 1945 bis Mai 1946 nach München abgeordneten französischen Kunstschutzkommissarin Marcelle Minet (Abb. 3) inspiriert sein mag, die decameroneske Tafelrunde weiter unterhält, serviert Thomas Lieven Parmesan-Pudding, Rehrücken Baden-Baden und Russische Creme (Abb. 4) und verliebt sich in die „bescheidene, schöne“ Collecting Point-Sekretärin.

Prof. Dr. IRIS LAUTERBACH ist Forschungsreferentin am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Honorarprofessorin an der Technischen Universität München.