Julia Bondl über Courbet und Vercingétorix

Nous ne chavons pas où ch’est, Alégia!“

*René Goscinny, Albert Uderzo, Astérix: Le bouclier Arverne, 1968, S. 19.

Alésia – ein denkwürdiger Ort für den französischen Nationalstolz; auch wenn im Comic Astérix Gegenteiliges behauptet wird, zerschlagen dort Cäsars Truppen 52. v. Chr. den Aufstand der gallischen Stämme unter Vercingétorix. Durch Schriftsteller wie Amedée Thiery (1828, Histoire des Gaulois), oder Henri Martin (1837–54, Histoire de France) wird der Arvernerfürst im 19. Jahrhundert zum französischen Nationalhelden erhoben. Er steht für die Geschichte einer Rebellion, die zum Abstammungsmythos der Franzosen gesponnen wird (vgl. Michel Reddé et al., Alesia: vom nationalen Mythos zur Archäologie, Mainz 2006, S. 61f.). Ausgangspunkt für viele damalige Forscher ist Cäsars De bello gallico. Darin verweist der Feldherr auf Druiden und ihre Kultstätten wie freistehende Steine oder kräftige Eichen (vgl. Detert Zylmann, Die Menhire: Das Geheimnis um die kultisch-religiösen Steinmale, Hamburg 2014, S. 73f.).

Letzteres Motiv bedient auch Gustave Courbet (1819–1877) in seinem Werk Le Chêne de Flagey aus dem Jahr 1864 – eine Erinnerung an das Gut der Courbets in der ländlichen Franche-Comté (Abb. 1). Mit gewaltigem Stamm und dichter Baumkrone überragt die Eiche den gesamten Bildraum; ein Umstand, der nicht nur Courbets ‚Realismus‘ geschuldet ist, sondern zur Interpretation des Motivs einlädt. Häufig wird es als Selbstbildnis interpretiert (vgl. Linda Nochlin, Courbet, New York, 2007, S. 133). Jedoch eröffnet sich eine neue Deutungsebene, sobald Courbets Titelzusatz aus dem Jahr 1867 berücksichtigt wird: Le Chêne de Vercingétorix, Camp de César près d’Alésia, Franche-Comté (vgl. Sophie Biass-Fabiani, Courbet paysagiste républicain, in: Noël Barbe et al. (Hg.), Courbet peinture et politique, Besançon, 2013, S. 133f.).

Vercingétorix’ Alésia in der Franche-Comté? – Aus heutiger Sicht ein unsinniger Gedanke. Dank früher Grabungen konnte nämlich das 170 km entfernte Alise-Sainte-Reine im Département Côte-d’Or als Schauplatz der Schlacht identifiziert werden. Im 19. Jahrhundert war dieser Sachverhalt aber noch nicht eindeutig geklärt; ein Umstand, der das durch die 1848er Revolution aufgeheizte ‚Klima patriotischer Schwärmerei‘ in Frankreich befeuerte und einen intellektuellen und politischen Streit um Alésia provozierte (vgl. Reddé, S. 62). Ein berühmt-berüchtigter Zwist, der – wie Astérix und der Arvernerschild* zeigt – über ein Jahrhundert später noch immer im Unterbewusstsein manches Franzosen schwelt.

Viele antimonarchisch gesinnte Patrioten rangen Mitte des 19. Jahrhunderts um ihr ‚gallisches Erbe‘. Rädelsführer dieser Bewegung war Alphonse Delacroix (1807–1878), der 1855 mit seinem Vortrag über Alésia in der Franche-Comté vor der ‚Société d’Émulation du Doubs’ den Anstoß für eine ausufernde Debatte gab (vgl. Auguste Castan, Inauguration à Alaise du Buste d’Alphonse Delacroix – 9 Août 1885, in: Mémoires de la Société d’Émulation du Département du Doubs, Bd. 5, 1885, S. 22). Dieser lokale Verband sollte den wirtschaftlichen Aufschwung der ländlichen Regionen fördern. Und so fiel Delacroix’ Behauptung bei den lokalpatriotischen Gelehrten auf fruchtbaren Boden, was sich in vielen Artikeln der Vereinszeitschrift widerspiegelt.

Auch wenn Courbet selbst zur Zeit der Gründung der ‚Société‘ im Jahr 1841 noch Schüler war, zählte er mehrere Mitglieder der ersten Stunde zu seinen engen Freunden und trat ein paar Jahre später selbst bei (vgl. Petra ten-Doesschate Chu, It Took Million of Years to Compose That Picture, in: Sarah Faunce (Hg.) et al., Courbet reconsidered, New York, 1988, S. 57). Er äußerte sich zwar nicht in schriftlicher Form zum Thema – jedoch kann das Gemälde mit dem Zusatztitel als eindeutige Positionierung im Streit um Alésia gedeutet werden; nicht allzu überraschend für einen „[…] Maler des Realismus mit demokratisch-sozialistischer Ausrichtung […]“ (Norbert Wolf, Kunst-Epochen. 19. Jahrhundert, Stuttgart 2010, S. 243).
Der Lokalpatriotismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts steht exemplarisch für die von den Demokraten angestrebte Eigenständigkeit der Provinzen und gegen den Zentralismus unter Napoléon III. In dieser politischen Situation wird Vercingétorix, der die gallischen Stämme gegen seinen Widersacher Cäsar vereinte, zum Vorbild der Demokraten im Widerstand gegen ihren gegenwärtigen Kaiser (vgl. Biass-Fabiani, S. 135). Und so kann auch dieses Landschaftsgemälde von Courbet als ein politisch verschlüsseltes gedeutet werden: Die Eiche des Vercingétorix in der Franche Comté als Visualisierung des Widerstands gegen die Pariser Regierung.

Nur leider bestätigten ausgerechnet Ausgrabungen unter Napoléon III. Alise Sainte Reine als das ‚echte‘ Alésia. Courbet hätte sich sicher einen anderen Ausgang gewünscht. Aber angeblich hört „[…] ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf […] nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten“ (René Goscinny, Albert Uderzo, Astérix und der Arvernerschild, Stuttgart 1972, S. 3) – es gibt also noch Hoffnung für Courbet und seine Franche-Comté.

JULIA BONDL, M.A. ist wissenschaftliche Hilfkraft in der Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte.