Julia Bondl zu Meissonier und Courbet: Pflastersteine im Pariser Salon 1850/51

Ausschnitt aus einer Zeichnung. Wir sehen unzählige schwarze Zylinder, die auf eine Menschenmenge verweisen. Ein Mann mit knochigem Gesicht und Moustache reckt seinen Kopf empor und sticht so aus der Masse heraus.

Es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass der gemeine Pflasterstein je Thema im Pariser Salon gewesen sein könnte – und doch fand er mithilfe zweier Werke nach den Unruhen im Jahr 1848 seinen Weg in den Pariser Salon von 1850/51: Souvenir de guerre civile von Ernest Meissonier und Gustave Courbets Les Casseurs de pierres , beide aus dem Jahr 1849.

Meissonier sorgt zu seiner Zeit regelmäßig für Furore im Pariser Salon. Er verewigt seine Genremalerei in akribischer Manier auf kleinen Formaten. „Der Hofmaler von Liliput“, ein Titel, der ihm vom Kunstkritiker Théophile Gautier verliehen wurde, setzt auf sehr kleine Maßstäbe, was manchen Salonbesucher dazu verleitet, die Präzision der Werke mit der Lorgnette oder der Lupe zu untersuchen. Die einfachen Sujets, die oft in Innenräumen oder -höfen angesiedelt sind, und die an Miniaturmalerei grenzende Akribie des Künstlers sind ausschlaggebend für das stetig wachsende Interesse an seinen Werken. Eine überspitzte Karikatur von Honoré Daumier Devant les tableaux de Meissonnier (Abb. 1) aus dem Jahr 1852 zeigt eine dicht gedrängte Menge von Menschen vor Meissoniers Gemälden, um einen Blick auf seine kleinen Exponate zu erhaschen (vgl. Matthias Krüger: Jean-Léon Gérôme, Ernest Meissonier und der Pariser Salon, in: Hubertus Gaßner, Viola Hildebrand-Schat (Hg.): Manet – Sehen. Der Blick der Moderne, Petersberg 2016, S. 46 f.)

Zwar begnügt sich auch Meissoniers Werk Souvenir de guerre civile (Abb. 2) mit bescheidenen Maßen, jedoch hebt es sich durch seine stille Grausamkeit thematisch von seiner frühen Genre- und Historienmalerei ab. Gezeigt wird das Ergebnis einer erbitterten und blutigen Straßenschlacht in Paris während der Revolten im Jahr 1848.

Auch wenn die Farbauswahl des Werks an die Trikolore erinnert, handelt es sich hier mit hoher Wahrscheinlichkeit um authentische Eindrücke des Malers. Denn Meissonier war als Soldat der royalen Gegenseite selbst mitten im Geschehen (vgl. ebd. S. 43). Mit Skizzen und Aquarellstudien versuchte er die Geschehnisse einzufangen. Im vollendeten Ölgemälde zeigt er, einer Momentaufnahme ähnlich, neben leblosen Revolutionsopfern auch eine aus Pflastersteinen bestehende, zerschmetterte Barrikade. Sehr prominent in Szene gesetzt, füllen die sandfarbenen Steine das gesamte untere Viertel des Gemäldes aus. Unter den gefallenen Opfern scheint der ungepflasterte, braune Erdboden hervor, und im Hintergrund erahnt der Betrachter den noch mit Steinen befestigten Boden der Straße. Die detailliert wiedergegebenen Pflastersteine lassen auf deren Bedeutung im Revolutionsgeschehen schließen.

Bereits in diversen Abbildungen der 1830er-Revolution wurde der Pflasterstein als Revolutionsobjekt in den Vordergrund gerückt. Pflastersteine mutieren in den Unruhen häufig vom einfachen Straßenbelag zu Wurfobjekten, Waffen und Baumaterial für Barrikaden. Bereits in Heinrich Heines Französische Zustände (Über Frankreich, 1831-1837. Berichte über Kunst und Politik, Bde. 7., Berlin 1970, S. 84) im Dezember 1831 war der Pflasterstein mit revolutionärer Bedeutung aufgeladen:

(…) und wie man die Pflastersteine, die man (…) als Waffe gebrauchte, und die an einigen Orten noch seitdem aufgehäuft lagen, jetzt wieder ruhig einsetzt, damit keine äußere Spur der Revolution übrigbleibe: so wird auch jetzt das Volk wieder an seine vorige Stelle wie Pflastersteine in die Erde zurückgestampft und nach wie vor mit Füßen getreten.

Die erste Pflasterung der Hauptstraßen in Paris fand im 12. Jahrhundert statt. Durch den Monarchen angeordnet, diente die Pflasterung der unbefestigten Wege vor allem dem Adel, um sauber und schneller von einem Ort zum anderen zu gelangen (Vgl. Katrin Rottmann: Aesthetik von unten? – Pflaster und Asphalt in der bildenden Kunst der Moderne, München 2016, S. 44, 52). Somit kann die gepflasterte Straße, Stein an Stein, in Reih und Glied, als Sinnbild für die königliche Ordnung angesehen werden. Diese Struktur wird durchbrochen, wenn Rebellen das Pflaster aus der Straße herausklopfen, um aus den Steinen während der Straßenschlachten Barrikaden zu bauen, oder sie als Wurfobjekte zu verwenden. Der befestigte Weg und folglich die monarchische Herrschaftsordnung wird zerstört, um gegen die Obrigkeit aufzubegehren und unter dem „pavé du roi“ die blanke Erde – das Chaos – freizulegen (vgl. ebd., S. 44).

Im selben Jahr 1849 verewigt Courbet mit seinem Gemälde Les Casseurs de pierres (Abb. 3) das schwer arbeitende Proletariat in überdimensionalen Maßen die bis dato nur Historiengemälden vorbehalten waren.

Abb. 3: Gustave Courbet (1819–1877), Les Casseurs de pierres, 1849, Öl auf Leinwand, 159 x 259 cm, Gemäldegalerie Dresden (zerstört), James H. Rubin, Courbet, London 1997, S. 50

Unter der glühenden Sonne der ländlichen Franche-Comté verrichten zwei gesichtslose, überlebensgroße Arbeiter verschiedenen Alters ihre schweißtreibende, staubige Arbeit und klopfen Steine für die Straßen der Städte. Ihre Kleidung ist zerschlissen, ihr Handwerk mühevoll. Während der Alte mit einem Vorschlaghammer auf den Knien Steine klopft, schleppt der jüngere einen schweren Korb voller Steine. Inspiration fand Courbet wie so oft in der Realität. Im November 1849 berichtet er einem Freund (Brief an M. und Mme. Francis Wey, Ornans, 26.11.1849, in: Petra ten-Doesschate Chu, Corresponcance de Courbet, Paris 1996, S. 81-82.):
J’avais pris notre voiture, j’allais au château de Saint-Denis faire un paysage. Proche de Maisières, je m’arrête pour considérer deux hommes cassant des pierres sur la route. Il est rare de rencontrer l’expression la plus complète de la misère. Aussi sur-le-champ m’advint-il un tableau. (…) Le vieillard est à genoux, le jeune homme est derrière lui debout, portant avec énergie un panier de pierres cassées. Hélas, dans cet état c’est ainsi qu’on commence, c’est ainsi qu’on finit!

Die Thematik des Gemäldes und die intendierte moralische und gesellschaftspolitische Symbolkraft ist, ebenso wie Format und Farbauftrag, revolutionär für die damalige Zeit und schlägt in der Pariser Kunstwelt bekanntlich hohe Wellen (vgl. James H. Rubin, Courbet, London 1997, S. 66). Amédée de Noé, besser bekannt als „Cham“ , karikiert das Werk in der Zeitschrift Le Charivari und persifliert gekonnt die Reaktion der Bourgeoisie auf Courbets Gemälde (Abb. 4, 5):

Les Casseurs de pierres ist eines der ersten von Courbets Gemälden mit deutlicher Sozialkritik und ebnet den Boden für eine Reihe ähnlich argumentierender Gemälde, die die sogenannten „misères“ mit erschütterndem Realismus wiedergeben und den politischen Standpunkt des Malers zum Ausdruck bringen (vgl. Linda Nochlin, Courbet und die Darstellung des Elends. Ein Traum von Gerechtigkeit, in: Klaus Herding, Max Hollein (Hg.), Courbet – Ein Traum von der Moderne, Ausst. Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, (15. Okt. 2010–30. Jan. 2011), Ostfildern 2010

Zwei Maler, die unterschiedlicher nicht sein können – der eine, ein bourgeoiser Genre- und Historienmaler, der andere, dem Proletariat zugetan und in Zukunft allzu oft Persona non grata im Pariser Salon – stellen gleichzeitig im 1850/51er Salon aus und verewigen den revolutionär aufgeladenen (Pflaster-)stein als eigenen Bedeutungsträger im Gemälde (vgl. Rottmann, S. 54 f.). Ein Revolutionsgemälde im Miniaturformat und ein revolutionäres Gemälde, dessen Sujet auf einer für das zeitgenössische Verständnis viel zu großen Leinwand verhandelt wird. Die Steine, die in dem einen Werk mühsam geklopft werden, könnten im nächsten Moment von Rebellen aus dem Straßenbelag gerissen werden, als Werkzeug der Revolution Verwendung finden, und später in dem anderen Gemälde als Erinnerungsstücke zwischen den Opfern des Kampfes liegen. Letztlich kann der Pflasterstein in beiden Werken als Warnung an das jeweils gegnerische politische „Lager“ gesehen werden (vgl. ebd., S. 54 f.).

JULIA BONDL, M.A. ist wissenschaftliche Hilfkraft in der Bibliothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte.