„Ueber Zweck, Notwendigkeit, Naturwahrheit, mit einem Worte über das Wesen der Kunst werden die Meinungen ewig gegeneinander stehen, solange wir uns nicht eingehender mit dem Wesen der Natur beschäftigen. Nicht der uns umgebenden, sondern unsrer eignen“, so zumindest formuliert es die deutsche Kunsthistorikerin Mela Escherich in ihrem Artikel Kunst als Offenbarung der Natur (Mela Escherich: Kunst als Offenbarung der Natur, in: Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaften, Heft 3, München 1903, S. 270-274, 308–318, hier: S. 270, https://doi.org/10.11588/diglit.47725.61). Vor dem Hintergrund einer solchen Betonung der eigenen Gefühlswelt, die bis hin zu einer Überhöhung ins Mystische reicht, sollte es nicht verwundern, dass sie den Expressionismus als eine persönliche Erleuchtung empfand. Besonders das Werk des russisch-deutschen Malers Alexej von Jawlensky (1864–1941) spielt dabei eine wichtige Rolle. Escherich und Jawlensky verband, wie wir später sehen werden, eine Freundschaft, die weit über die bloße gegenseitige Anerkennung hinausging.
Mela Escherich (Abb. 1) (eigentlich Emilie Welzhofer) kam als Tochter eines Historikers und einer Schriftstellerin in München zur Welt. Nach ihrer erfolgreichen Promotion und dem Umzug in die hessische Kurstadt Wiesbaden publizierte sie, wie bereits ihre Mutter, unter deren Mädchenname Escherich und schrieb unter anderem für den Kulturteil der Wiesbadener Zeitung Nassovia sowie für renommierte kunsthistorische Fachzeitschriften wie Die Kunst für Alle, Der Cicerone oder die Kunstchronik. Zugleich war sie die erste, die das berühmte Werk Das fließende Licht der Gottheit, der christlichen Mystikerin Mechthild von Magdeburg aus dem 13. Jhdt. ins Neudeutsche übersetzte (Berlin 1909). Neben Rezensionen aktueller Wiesbadener Ausstellungen lag ihr Hauptaugenmerk auf der Verbindung von Kunst, Mystik und Natur, wobei sie Kunstwerke vom Mittelalter bis in ihre Gegenwart behandelte. Ergänzend verfasste sie Künstlermonografien und -bibliografien, wie z.B. zu Matthias Grünewald (Straßburg 1914) oder zu Hans Baldung (Straßburg 1916). Dabei thematisieren viele ihrer Schriften Mythen, Sagen und Märchen und untersuchen, wie sich diese auf die Kunst auswirken.
In ihrem Naturverständnis ist der Mensch nur ein Teil der Welt. Auf gleiche Weise ist auch die Kunst aufs Engste mit der Natur verbunden. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und erklärt, dass alle Kunst- und Stilformen reiner Ausdruck von Naturformen seien, denn „Der Mensch erfand sie nicht, er fand sie.“, doch „Er fand sie nicht in der Natur: er fand sie in sich: weil er Teil vom Ganzen ist.“ (Mela Escherich: Natur und Kunst, in: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, Heft 6, München 1937, S. 157, 163, hier: S. 157, https://doi.org/10.11588/diglit.16484.45).
Die Schriften Escherichs heben einen Aspekt immer wieder hervor: „Kunst ist Empfindungsäusserung.“ (Escherich, 1903, S. 270). Um als solche bis in alle Ewigkeit zu überdauern, muss sie über die Darstellung des Sichtbaren hinausgehen, sich nach Innen richten und die Betrachter*innen dieses Innere erleben lassen. In ihrem Aufsatz Kunst und Mystik aus dem Jahr 1931 formuliert sie ihre Gedanken zur Vollendung der Kunst: „Sie beginnt eigentlich erst da, wo sie aufhört.“ (Mela Escherich: Kunst und Mystik, in: Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, Heft 12, München 1931, S. 364-366, 378, hier: S. 366, https://doi.org/10.11588/diglit.16478.100).
Eben jener Artikel (Abb. 2) findet auch in einem Brief Jawlenskys an Escherich Erwähnung. Der Maler berichtet, dass er den Text bereits zum wiederholten Male lese und lobt Escherichs Überlegungen (Jana Dennhard: Der Maler Alexej von Jawlensky und die Kunsthistorikerin Mela Escherich, in: Roman Zieglgänsberger/ Jana Dennhard (Hg.): Alles! 100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden, München 2021, S. 365-371, hier: 367). Bemerkenswert ist, dass die Kunsthistorikerin neben den in ihren Texten immer wiederkehrenden Malern wie Matthias Grünewald oder El Greco auch Alexej von Jawlensky als einen Meister der „mythischen Vision“ bezeichnet (Escherich 1931, S. 364).
Als Jawlensky 1922 nach Wiesbaden kam, freundeten sich die beiden schnell an und führten einen regen intellektuellen Austausch, der aus zahlreichen Briefen und Widmungen ersichtlich wird. Da Jawlensky zu dieser Zeit noch nicht etabliert war und trotz einiger Ausstellungen unter Geldproblemen litt, versuchte Mela Escherich den Maler einem breiteren Publikum bekanntzumachen, indem sie immer wieder Artikel über ihn schrieb. Selbst dann noch, als der Künstler im NS-Regime bereits öffentlich diffamiert worden war. Weiter engagierte sie sich in der von Hanna Bekker vom Rath (1893–1983), gegründeten Gesellschaft der Freunde der Kunst von Alexej von Jawlensky und unterstützte ihren Freund so auch finanziell. Zum Dank erhielt sie mehrere Werke Jawlenskys, teilweise mit persönlichen Widmungen. Einer der berühmten Abstrakten Köpfe Jawlenskys zeigt laut seinem Titel sogar das Antlitz Escherichs (Abb. 3).
Für die Kunsthistorikerin vermutlich eine ganz besondere Ehre, waren es doch genau diese Abstrakten Köpfe, die sie für besonders meditativ, mystisch und visionär hielt (Dennhard 2021, S. 366).
Escherich pflegte aber nicht nur zur Familie Jawlensky engen Kontakt, sie war in der Wiesbadener Kunstszene gut vernetzt; Künstler wie Hans Völcker (1865–1944) oder James Pitcairn-Knowles (1863–1954), aber auch Persönlichkeiten aus dem Museumsbetrieb wie Clemens Weiler (1909–1982) zählten zu ihrem engen Bekanntenkreis. Zusammen mit letzterem, dem späteren Direktor des Museums Wiesbaden, erhielt Escherich auch den Auftrag zur Neuordnung der Museumssammlung. Trotz ihrer guten Kontakte gelang es ihr nur mit mäßigem Erfolg, das Werk Jawlenskys in der Nachkriegszeit populär zu machen. Nach dem Tod des Malers war es ihrer Expertise zu verdanken, dass die weit verstreuten Werke des Malers wiederaufgefunden werden konnten. Sie selbst arbeitete lange Zeit an einer Jawlensky-Biografie inklusive eines umfangreichen Werkkatalogs. Auch wenn das Projekt bis zu ihrem Tod 1956 nicht finalisiert werden konnte, flossen wohl aber viele der Ergebnisse in spätere Forschungsbeiträge ein (Dennhard 2021, S. 369).
Mela Escherich hat aus heutiger Sicht durch ihre Schriften und ihr Engagement entscheidend zur Rezeption von Jawlenskys Werk beigetragen. Umso bedauernswerter ist es, dass ihre kunsthistorischen Forschungen heute kaum mehr wahrgenommen werden. Man sollte Escherich daher nicht weiter nur als eine von Jawlenskys „Nothelferinnen“ betrachten, denn so verschließt man die Augen vor dem umfangreichen Schriftwerk einer scharfsinnigen und unbeirrbaren Kunsthistorikerin.
LEON KRAUSE ist studentische Hilfskraft am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Teil der Onlineredaktion.
Die Bibliographie erfasst für den Zeitraum bis um 1930 systematisch Texte von Frauen, die über Kunst und Kunstgeschichte schreiben. Ziel ist es, die Schriften dieser Autorinnen nach und nach digital zugänglich zu machen. Sie sollen so im kunsthistorischen Kanon sichtbarer und leichter verfügbar werden. Zugleich werden deren Breite und Vernetzung, aber auch Hürden und Grenzen erkennbar.