Sarah Debatin über Helen Zimmern (1846–1934), Nietzsches englische Freundin

Vor zitronengelbem Hintergrund freigestellt: schwarz/weißes Portrait einer Frau (Helen Zimmern).

„Komisch! Man hat gut sich wehren gegen Frauen-Emancipation: schon ist wieder ein Musterexemplar eines Litteratur-Weibchens bei mir angelangt, Miss Helen Zimmern,“ schreibt der bekennende Frauenfeind Friedrich Nietzsche 1886 aus Sils Maria an seinen ebenfalls schriftstellerisch tätigen, langjährigen Freund Peter Gast (eigentlich Heinrich Köselitz, 1854–1918). (Mario Leis: Frauen um Nietzsche, Hamburg 2000, S. 100) Neun Wochen verbringen Nietzsche und Zimmern als Tischnachbarn und auf Spaziergängen in regem Austausch, und auch in späteren Jahren treffen sie in dem Schweizer Kurort immer wieder aufeinander. Auf Nietzsches dringenden Wunsch hin ist Helen Zimmern auch diejenige, die, zunächst zögerlich, zwei seiner Werke ins Englische übersetzt und ihm so zu größerer Bekanntheit in Großbritannien verhilft. Über sein Verhalten gegenüber Frauen schreibt sie später im Rückblick: „Es gibt anscheinend Männer, die über die Frauen Theorien haben, die sie kaum in die Praxis übersetzen.“ (ebd.)

Abb. 1: Hugo Herkomer, Porträt Helen Zimmern | Friedrich Pecht (Hrsg.): Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur, München 1891, S. 5 | DOI 10.11588/diglit.10736#0019

Helen Zimmern wurde 1846 in Hamburg als Tochter eines Textilkaufmanns geboren. Wenig später zog die Familie zunächst nach Nottingham und dann nach London. Bereits mit 18 Jahren verdiente Zimmern ihren Lebensunterhalt als Schriftstellerin, Journalistin und Übersetzerin für Deutsch und Italienisch. Sie lieferte Beiträge für Magazine wie The Examiner, The Spectator, Blackwood’s Magazine, Argosy, Athenaeum und Fraser’s Magazine. Als in den 1870er Jahren das Interesse britischer Leser an „pessimistischer“ deutscher Literatur erwachte, übertrug sie gekonnt die Werke deutscher Autoren ins Englische und schrieb Monografien über Arthur Schopenhauer und Gotthold Ephraim Lessing. Noch heute würdigt man sie besonders in England als Vermittlerin zwischen deutscher und britischer Kultur.

Ab 1880 wandte Helen Zimmern sich neben literarischen und philosophischen vermehrt kunst- und kulturhistorischen Themen zu. Sie schrieb zahlreiche Bücher und Aufsätze und hielt Vorträge zu italienischer Kunst. 1887, Helen Zimmern lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in Florenz, veröffentlicht sie The Discourses of Joshua Reynolds. Später folgen Abhandlungen über Sir Lawrence Alma-Taddema und The Story of the Nations. The Hansa Towns. Sie arbeitete nun auch für italienische Zeitschriften wie La Rassegna Settimanale und Corriere della Sera und wird Herausgeberin der englischsprachigen Florence Gazette. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts war Zimmern außerdem Kulturkorrespondentin für deutsche und britische Kunstzeitschriften, u.a. Die Kunst-Halle, Die Kunst für Alle, Die Münchner kunsttechnischen Blätter und World of Art.

Abb. 2: Die Kunst für Alle, Titelseite mit Helen Zimmerns Beitrag: Die neapolitanische Malerschule, Heft 6, 1889 | DOI 10.11588/diglit.10738#0117

Ob sie in lebendigen Erlebnisberichten von Atelierbesuchen bei Auguste Rodin, Arnold Böcklin, Bessie Potter Vonnoh oder Hubert Herkomer berichtet oder mit kritischer Distanz Ausstellungen in Florenz, Siena und Neapel bespricht, ihre fachliche Expertise und ihre direkte Art öffneten ihr offenbar viele Türen – im übertragenen, wie im wörtlichen Sinn. Über einen Besuch bei Böcklin in Fiesole schreibt sie in der Kunst-Halle: „Ich muß zugeben, mir war etwas bänglich zu Muthe, als ich die Glocke zog. Ich hatte mich zwar angemeldet, indessen keine Antwort erhalten, und ich wußte noch von der Zeit her, als ich am Lungo il Mugnone in seiner Nachbarschaft gewohnt hatte, wie verhaßt Böcklin Atelierbesuche waren und wie barsch er sein konnte, wobei ich freilich einschalten muss, daß er dies mir gegenüber nie war.“ (Helen Zimmern: Bei Böcklin, in: Die Kunst-Halle, 11.1896, S. 161 | DOI 10.11588/diglit.62512.139). Der Besuch verläuft überaus angenehm. Böcklin zeigt sich im folgenden Interview freundlich, zugewandt und offen, spricht im Atelier mit Zimmern über die im Entstehen begriffenen Werke, führt sie gemeinsam mit der Gattin durch die malerische Villa und setzt sich sogar ans Klavier, um ein paar Takte zu spielen.

Ihre Vitalität, die sich in ihrer unmittelbaren, lebendigen Art zu schreiben zeigt und die Nietzsche an ihr schätzte, bewahrte sich Helen Zimmern trotz schwerer gesundheitlicher Einschränkungen bis ins hohe Alter. Oscar Levy, der die damals Achtzigjährige traf, betont in Nietzsches englische Freundin ihre jugendliche Ausstrahlung und beschreibt ihr Gesicht als „illuminated and translucent with intellect.“ (Sander L. Gilman: Conversations with Nietzsche: A Life in the Words of his Contemporaries, Oxford 1987, S. 169). Am 11. Januar 1934 verstarb Helen Zimmern in Florenz.

SARAH DEBATIN M.A. ist als Kunsthistorikerin für arthistoricum.net, den Fachinformationsdienst Kunst, Fotografie, Design der Universitätsbibliothek Heidelberg tätig. Sie betreut dort u.a. die bibliographische Datenbank Frauen schreiben über Kunst, die in Zusammenarbeit mit dem ZI München entsteht.

Die Bibliographie erfasst für den Zeitraum bis um 1930 systematisch Texte von Frauen, die über Kunst und Kunstgeschichte schreiben. Ziel ist es, die Schriften dieser Autorinnen nach und nach digital zugänglich zu machen. Sie sollen so im kunsthistorischen Kanon sichtbarer und leichter verfügbar werden. Zugleich werden deren Breite und Vernetzung, aber auch Hürden und Grenzen erkennbar.