Die Olympischen Spiele in München 1972 waren nicht nur ein Sportereignis, sondern boten auch ein buntes Kunst- und Kulturprogramm. In Erinnerung blieb vor allem die sogenannte Spielstraße, ein Programm mit Darbietungen von Künstler*innen und Artist*innen auf dem Olympiagelände, das nach dem Attentat auf die israelische Olympiamannschaft ein jähes Ende fand – während die Spiele fortgesetzt wurden. Weniger bekannt ist, dass ursprünglich ein sehr viel umfassenderes Kunstprogramm geplant war. Unter den gescheiterten Projekten ist zum Beispiel eine spektakuläre „Olympische Erdskulptur“ von Walter de Maria, die sich 120 Meter tief in den Schuttberg auf dem Oberwiesenfeld bohren sollte. In Kunstkreisen genießt dieses Vorhaben heute Legendenstatus. Gänzlich vergessen hingegen scheint ein ambitioniertes Ausstellungskonzept der Kunsthistorikerin und -journalistin Juliane Roh. Sie plante, eben jenen Schuttberg in einen „Berg des visuellen Vergnügens“ zu verwandeln. Dokumente aus dem Roh-Nachlass im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg erlauben Einblicke in das Projekt und in die Umstände seines Scheiterns (Abb. 1).
Aus Briefen geht hervor, dass Roh keine herkömmliche Ausstellung plante, sondern einen „gestalteten Rummelplatz“ mit kinetischen und partizipativen Kunstwerken. „Denn“, so schreibt sie, „wir haben es ja nicht mit Kunstliebhabern zu tun [sic] sondern mit Olympiadefans. Und für die ist ein kinetischer Garten entschieden amüsanter und einleuchtender als ‚hohe Kunst‘.“ Konkret dachte sie an einen „Sportroboter“ von Jean Tinguely als ironischen Kommentar auf sportlichen Leistungszwang, Wasserspiele von Heinz Mack und Lichtspiele von Julio Le Parc oder Otto Piene, an verschiedene Mobiles, ein begehbares Labyrinth und ein „grosses Spiralenkarussell mit Kugelgondeln“. Als Höhepunkt schlug sie ein „Tor der Träume“ vor, bei dem ein Paternosteraufzug die staunenden Besucher*innen durch acht unterschiedliche Environments befördern sollte. All diese Attraktionen sollten von ausgewählten Künstler*innen gestaltet und vor Ort realisiert werden.
Schon im Mai 1966, nur einen Monat nachdem München den Zuschlag für die Ausrichtung der Spiele erhalten hatte, wandte sich Roh mit ihrer Idee an Herbert Hohenemser. Er war der Kulturreferent der Stadt München und bald auch Vorsitzender im Kunstausschuss des Olympischen Komitees, einem ehrenamtlichen Gremium, dem Kulturschaffende wie Egon Eiermann, Günter Grass, Erich Kästner, Alexander Kluge, Carl Orff oder Carl Zuckmayer angehörten. Es war dafür zuständig, das Kunstbudget, das dank der „Kunst am Bau“-Richtlinie nicht unerheblich war, zielführend einzusetzen. Im Sinne des Wahlspruchs der „heiteren Spiele“ sollte die Kunst einen Gegenpol zu den von Regeln und Leistung geprägten Sportveranstaltungen bilden, wie das auch in Rohs Konzept anklingt.
Im November 1967 erhielt Roh die schriftliche Zusage, dass ihr „Berg des visuellen Vergnügens“ realisiert werden sollte. Sie wurde nun Mitglied der „Gestaltungsgruppe Oberwiesenfeld“ und stieg in die Detailplanung ein. Interessant ist, dass sie die Projektleitung nicht selbst übernehmen wollte und – obwohl sie als freischaffende Journalistin auf Tantiemen angewiesen war – wahrscheinlich auch keinen finanziellen Vorteil aus dem Projekt erwartete. Sie schlug hingegen Thomas Grochowiak, Künstler und erfolgreicher Ausstellungsmacher bei den Ruhrfestspielen, für den Posten vor. Dazu kam es jedoch nicht. Im Laufe des Jahres 1968 geriet das Projekt zunehmend aufs Abstellgleis, 1969 wurde es endgültig gestoppt. Die Gründe dafür waren wahrscheinlich Budgetfragen und das Ringen um die Gestaltungshoheit zwischen Architekt*innen (das Büro Behnisch & Partner und der Landschaftsarchitekt Günther Grzimek hatten inzwischen die Arbeit aufgenommen), Stadtverwaltung und Olympiakomitee.
Das Kunstprogramm wurde nun radikal beschnitten. Der Kunstkritiker Eduard Beaucamp sprach deshalb 1977 rückblickend im Kunstjahrbuch von einer „skandalöse[n] Behandlung der Kunst“ und warf den Planer*innen Provinzialismus vor. Im Spiegel heißt es 1970 lakonisch: „plötzlich […] heischten die Olympia-Architekten Behnisch und Grzimek mehr Platz für ihre Bauten und Bäume, und die Spielfeldwebel der öffentlichen Ordnung, Hasch und Hippies vor Augen, bangten um Sitte und Disziplin.“ Angesichts der 68er-Unruhen sorgte sich die Stadtverwaltung offenbar um den politisierenden Einfluss der Kunst und plädierte für eine „Zone der Ruhe“ neben den lärmenden Spielen. Ein Artikel aus dem Nachlass Rohs, in dem sie zu ihrem Projekt befragt wird, titelte: „Über allen Gipfeln ist Ruh’“. Juliane Roh gibt sich dort gleichermaßen bitter und kampfeslustig. Sie wolle versuchen, zumindest einen Teil ihres Projektes zu retten, zumal kinetische Kunst doch alles andere als politisch sei. Sie stehe mit Werner Ruhnau im Austausch, der inzwischen den Zuschlag für seine Spielstraße erhalten hatte. Rohs Versuche, direkt mit Günter Behnisch in Kontakt zu treten, scheiterten. Dennoch erarbeitete sie nachweislich eine detaillierte Liste mit 53 künstlerischen Positionen, die sich über den gesamten Olympiapark verteilen sollten. Als Basis diente ihr ein Grobkonzept aus dem Büro Behnisch & Partner (Abb. 2 und 3).
Ein möglicher und sehr persönlicher Grund für Juliane Roh, sich auch ohne finanziellen Anreiz tief in die Arbeit zu stürzen, könnte der Tod ihres Mannes Franz Roh im Dezember 1965 gewesen sein. Sie nahm diese Zäsur offenbar zum Anlass, an ihre frühere kuratorische Arbeit im Mannheimer Kunstverein (1935–37) anzuknüpfen. Ihr Konzept erweist sich dabei als auf der Höhe der Zeit: es erinnert an die Ende der 1960er-Jahre aufkommenden Prozess- und Konzeptkunstausstellungen (man denke etwa an Harald Szeemanns documenta 5, 1972). Verglichen mit der tatsächlich realisierten Spielstraße, war Rohs Konzept allerdings etwas weniger radikal. Möglicherweise scheiterte es genau deshalb. Denn anders als die temporären Interventionen der Spielstraße drohten Rohs Kunstwerke mit der Architektur in Konkurrenz zu treten.
Heute lässt sich kaum mehr beurteilen, ob der „Berg des visuellen Vergnügens“ ein folgreiches Projekt gewesen wäre. Interessant ist, dass einige Künstler*innen von Rohs Vorschlagsliste tatsächlich Werke im Olympiapark realisierten. Dazu gehören so spektakuläre Arbeiten wie Otto Pienes „Olympiaregenbogen“ [https://youtu.be/RsWBi6hWsXc?feature=shared] oder auch Heinz Macks „Wasserwolke“ über dem Olympiasee [https://muenchen1972-2022.de/veranstaltung/festival-des-spiels-des-sports-und-der-kunst/]. Bis heute steht im Olympischen Dorf eine kinetische Skulptur von Ruth Kiener-Flamm (allerdings inzwischen in einer Metall-Version des Bildhauers Peter Schwenk), die Roh ebenfalls auf ihrer Liste führte. Wahrscheinlich ließen sich durch weiterführende Untersuchungen noch weitere Spuren finden. Auch wenn zumindest aus den Akten im Nachlass Juliane Rohs nicht hervorgeht, wer letztlich für die Einladung der genannten Künstlerinnen verantwortlich war, scheint es so, als wäre Rohs Projekt nicht vollständig gescheitert, sondern als hätte es auch jenseits des Archivs einige Spuren hinterlassen.
Dr. LISA BEISSWANGER ist Trägerin des Juliane-und-Franz-Roh-Stipendiums 2023 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte.