Anspielungen/Aneignungen: Dominik Brabant über Musikvideos und Kunstgeschichte

Musikvideos zählen für gewöhnlich nicht zu den etablierten Forschungsgegenständen der Kunstgeschichte. Ähnlich wie die Fotografie, die bekanntlich bis weit in das zwanzigste Jahrhundert für die Kunstgeschichte als Forschungsobjekt kaum zur Debatte stand, galten Musikvideos bis vor kurzem für eine vertiefte Auseinandersetzung als wenig geeignet: allzu populär, allzu kommerziell und in der Regel ästhetisch anspruchslos. Dementsprechend ist die kunsthistorische Forschungsliteratur bis heute überschaubar.  Ausstellungen zu Musikvideos in der Völklinger Hütte (>>) vor zwei Jahren oder im Kölner Museum für angewandte Kunst im Jahr 2011 haben jedoch erlaubt, die Kreativität und audiovisuelle Intelligenz dieser Artefakte in den Blick zu nehmen. Anlässlich einer von Henry Keazor organisierten Sektion auf dem Kunsthistorikertag von 2013 in Greifswald hat der Kunsthistoriker Matthias Weiß in einem Interview auf www.portalkunstgeschichte.de daran erinnert, dass sich diese Gattung unter anderem aus der Visuellen Musik der 1920er und 1930er Jahren heraus entwickelt hat (>>).  

Auch vor diesem Hintergrund lohnt ein genauer Blick, um Neues zu entdecken und dieses kunsthistorisch zu analysieren. Gerade in den vergangenen Jahren sind die Beziehungen zwischen Musikvideos und dem Feld der Kunst nämlich immer enger geworden. Auslöser hierfür dürften einerseits das Ende des klassischen Musikfernsehens sein – mit MTV als dem wohl bekanntesten Sender –, andererseits die schrittweise Umorientierung der Produzent*innen und Rezipient*innen hin zu neuen Distributionsformen – allen voran YouTube oder TikTok. Künstler*innen sowie Regisseur*innen haben in der Folge neue Produktions- und Rezeptionsweisen ausgelotet, nicht zuletzt im Zuge des Vordringens von Smartphones und Tablets als Medien des Videokonsums (>>). Für eine effektvolle Wirkung der Musikvideos, die nun auf vergleichsweise kleinen Bildschirmen aufgerufen werden, musste auf neue Strategien zurückgegriffen werden. Detaillierte, vielfigurige Videos, wie sie etwa noch Michael Jackson aufwendig produziert hatte, verlieren auf dem Smartphone viel von ihrer visuellen Opulenz.

Henry Keazor und Thorsten Wübbena, die zu den Pionieren der deutschen kunsthistorischen Musikvideo-Forschung zählen, haben in einem Kapitel ihres Buches Video thrills the Radio Star die Bezugnahmen von Videoclips auf Kunstwerke sowie auf Künstler*innen eingehend untersucht (Henry Keazor/Thorsten Wübbena: Video thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen [3., erweiterte und aktualisierte Auflage], Bielefeld 2014, S. 329–396). Hier nun sollen, auch mit Blick auf jüngste Entwicklungen, in aller Kürze drei Formen des Umgangs mit Kunstwerken vorgestellt werden, die jeweils unterschiedliche Akzente setzen: Die Stichworte hierzu lauten „Anspielung“, „Aneignung“ und „Ausfransung“ (ein Begriff von Theodor Adorno (1903–1969) – dies dann in der nächsten Folge von Spotlight).

 „Anspielungen“

Vergleichsweise detailliert analysiert wurden beispielsweise die interpikturalen Bezüge zur Kunst in dem 1991 veröffentlichten Video zu dem Song Losing My Religion der amerikanischen Band R.E.M. Regie führte damals Tarsem Singh. In Form von „tableaux vivants“ werden in dem Musikvideo Fotografien des Künstlerduos Pierre et Gilles (Pierre Commoy (*1950) und Gilles Blanchard (*1953)) und Gemälde von Caravaggio (1571–1610) alludiert, ohne dass diese dabei jedoch stets als eindeutige Bildzitate erkennbar würden (Thorsten Wübbena/Eric Decker/Matthias Arnold: „Losing My Religion“ – Einsatz der Videoannotationsdatenbank Pan.do/ra in der kunstgeschichtlichen Analyse von Musikvideos, in: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 2015-06, Vol. 1 (18)). Deutlich wird dies beispielsweise im Aufgreifen der Bildkomposition von Caravaggios Der Ungläubige Thomas (Abb. 1), dessen verstörend penetrierender Griff in die Wunde Christi hier in einer etwas anderen Personenkonstellation mit überwiegend älteren Figuren nachgestellt wird (R.E.M., Losing My Religion, 1991, Minute 2:22 (>>)).

Gemälde. Vier Männer. Einer hat eine Wunde unter der rechten Brust. Ein Mann steckt den Zeigefinger in die Wunder. Alle Männer schauen dahin.
Caravaggio, Der ungläubige Thomas (kirchliche Version), 1601-1602 , Privatsammlung, Florenz, Italien | Caravaggio Caravaggio artist QS:P170,Q42207, The Incredulity of Saint Thomas, CC BY-SA 4.0

Eine vergleichbare Strategie der kunsthistorischen Anspielung findet sich in dem von Rocky Schenck 1995 gedrehten Musikvideo zu dem Duett von Nick Cave mit Kylie Minogue mit dem Titel Where The Wild Roses Grow. Die schauerromantische Geschichte um einen Liebesmord wird von einem Video gerahmt, das auf Sir John Everett Millais (1851–1852) präraffaelitisches Gemälde Ophelia (Abb. 2) zurückgreift (Nick Cave & The Bad Seeds ft. Kylie Minogue, Where The Wild Roses Grow, 1995, Minute 1:38 (>>)).

Gemälde. Fluss. Umgeben von schöner Natur. Im Fluss treibt auf dem Rücken liegend eine Frau.
Sir John Everett Millais, Ophelia, 1851–2 | Tate, N01506 | Wikimedia Commons, als gemeinfrei gekennzeichnet

 „Aneignungen“

Jüngere Videos, die interpikturale Bezüge zur Kunstgeschichte inszenieren, scheinen dagegen bereits verstärkt von den „Swipe-Praktiken“ der Social Media geprägt zu sein: Art Memes bilden einen erstaunlich präsenten Topos in rezenten Videos. Ein Beispiel wäre das Musikvideo zu dem Song 70 Million der nicht mehr existenten Band Hold Your Horses. Darin werden ikonische Gemälde, zum Beispiel von Rembrandt (1606–1669) oder aus der Schule von Fontainebleau, in humorvoller und teils bewusst alberner Weise von den Musikern nachgestellt (Hold Your Horses, 70 Million, 2011 (>>)). Das Publikum wird hier also eingeladen, sich am Ratespiel des kunsthistorischen „musée imaginaire“ zu beteiligen. Fast kann man meinen, dass ältere Rezeptionsformen der Kunst, die weniger auf stille Kontemplation denn auf dialogische Ausdeutung von Kunstwerken aus waren, hier ein unerwartetes Revival erleben. Solchen Tendenzen der offensichtlichen und leicht goutierbaren Aneignung lässt sich eine Reihe von audiovisuellen Werken gegenüberstellen, die offenbar ganz bewusst den Dialog mit Anliegen und Bildsprachen der Gegenwartskunst suchen.

Diese sind Gegenstand des nächsten Spotlights.

Dr. DOMINIK BRABANT ist Stellvertretender Direktor des ZI.