Zu den bemerkenswerten Phänomenen der jüngeren Geschichte von Musikvideos zählt ein zunehmend enger Dialog mit der Gegenwartskunst. Anders als Musikvideos, die sich mit der klassischen Kunstgeschichte auseinandersetzen (siehe das vorangegangene Spotlight >>), verzichtet eine Reihe von jüngeren Werken weitgehend auf einen Rückgriff auf den etablierten Kanon der Kunstgeschichte – und damit auf eine hohe Wiedererkennbarkeit. Demgegenüber greifen sie in auffallender Weise auf audiovisuelle Strategien und Bildsprachen der Gegenwartskunst zurück, wohl auch im Bewusstsein um ein ebenso kunstinteressiertes wie in Fragen der gegenwärtigen kulturtheoretischen Debatte informiertes Publikum. Aktuelle Themenkomplexe der Gegenwartskunst, so etwa Fragen des Posthumanen, der Konstruktion und Dekonstruktion von Identität oder nach Techniken der Subjektivierung in der Spätmoderne, lassen sich auch in dieser Gattung wieder finden, oftmals mit einem hohen Maß an Originalität.
„Ausfransungen“
Einige Beispiele sollen hier unter dem Stichwort einer „Ausfransung“ der Künste vorgestellt werden. Theodor Adorno hat diesen Begriff im Sinne einer Entgrenzung von ehedem voneinander getrennten Medien und Sphären der Künste verstanden. Durchaus mutig, wenngleich auch nicht ohne Kalkül, haben Musiker*innen die neuen Freiheiten der Distributionsformen im Internet aufgegriffen, um neuartige, oftmals bewusst experimentelle Bild- und Tonsprachen zu kreieren, die sich den gängigen Qualitätskriterien eingängiger Popmusik entziehen.
Verwandlungen
Sicherlich lassen sich zahlreiche Videos von Björk (*1965), die häufig in Kollaboration mit dem französischen Regisseur Michel Gondry (*1963) entstanden sind, als Vorläufer dieses Trends begreifen. Das Video zu der Single All is Full of Love (Regie: Chris Cunningham) (>>), in der zwei Roboter, einer davon mit den Gesichtszügen der Sängerin, in einer sterilen Laboratmosphäre zueinander finden und in einen geradezu erotisch anmutenden Dialog zueinander treten, kann hier ebenso als Beispiel dienen wie das 2022 veröffentlichte Video zu dem Song Atopos, in dem die Künstlerin im Sinne der rezenten Öko-Art mit einer die Grenzen von Natur und Kultur überschreitenden Bildsprache aus dem Bereich der Pflanzen- und Pilzwelt arbeitet (>>). Die Nähe der isländischen Sängerin, die bekanntlich mit Matthew Barney (*1967) verheiratet war, zur Kunstszene wurde bereits in einer 2015 von Klaus Biesenbach kuratierten und kontrovers diskutierten Ausstellung zum Gesamtkunstwerk Björk im New Yorker Museum of Modern Art (>>) thematisiert.
In dieser Tradition der „Verkunstung“ (erneut Adorno) von Musikvideos arbeiten auch Avantgarde-Künstlerinnen wie etwa die Elektro-Musikerinnen Arca (*1989) oder SOPHIE (1986–2021). Dem breiten Publikum sind diese nur selten bekannt, jedoch genießen beide in der Fachpresse eine hohe Reputation. Beide Künstlerinnen haben als Trans-Personen, deren Karrieren sich in der Zeit vor oder während ihrer Transition entwickelt haben, einen besonderen Status in der öffentlichen Wahrnehmung. Ihre experimentellen Soundcollagen haben sie mit raffinierten visuellen Inszenierungen gekoppelt.
Verzerrungen
In ihrem (nur nach Überprüfung der Altersfreigabe zu sehenden) Musikvideo zu dem Song Mecquetrefe beispielsweise arbeitet sich Arca zu heftig pulsierenden Latino-Klängen ebenso spielerisch wie ikonoklastisch am Bild ihrer selbst ab (>>) [Das Video ist nur mit Altersprüfung zu sehen, da die Brust der Sängerin gezeigt wird]. Die Bildsprache ist von visuellen Störeffekten geprägt, wie sie zuletzt in der Ausstellung Glitch in der Pinakothek der Moderne (>>) in München vorgestellt worden sind. Das Bild der Künstlerin, die sich vor weißem Hintergrund an die Betrachtenden richtet, oszilliert beständig zwischen der Figuration als attraktiver, sich in ihrer Sexualität exponierender Frau in teils gewagten Outfits und einer geradezu kubistisch anmutenden Defiguration. In Millisekundenschnelle werden Gesicht und Körper der Sängerin zur grotesken, womöglich sogar beängstigenden Fratze, nur um sich sogleich wieder in eine menschliche Gestalt zurück zu verwandeln. Betrachter*innen könnten dabei etwa an Willem de Koonings Gemälde Woman I von 1952 denken (>>), oder das Video als Reminiszenz an Picassos Demoiselles d’Avignon (>>) deuten. Bekanntlich haben sich beide Künstler in diesen Werken aus einer genuin männlichen Perspektive mit der Bedrohung durch eine als archetypisch empfundene und stark sexualisierte Weiblichkeit auseinandergesetzt. Womöglich spielt diese Dimension auch in Arcas Video eine Rolle, nun jedoch im Kontext einer Thematisierung von gleitenden Geschlechterkonstruktionen. Dennoch bleibt weitgehend offen, ob solche Anspielungen intendiert sind oder nicht. Im Vergleich zu den im letzten Spotlight besprochenen Beispielen scheinen die interpikturalen Beziehungen zwischen Arcas Clip und den möglichen kunsthistorischen Vorbildern weniger auf Wiedererkennbarkeit als vielmehr auf verborgene und assoziierbare Querverweise angelegt zu sein.
Deformierungen
In vergleichbarer Weise präsentiert sich die hochgelobte schottische Künstlerin SOPHIE in ihren Videos, auch wenn die audiovisuelle Anmutung anders ist. Zum „self-fashioning“ dieser mittlerweile verstorbenen Künstlerin zählte ihre für lange Zeit geheim gehaltene Identität. Zu diesem Zweck waren frühe Songs auf YouTube lediglich mit dem Bild eines quietschbunten Plastikspielzeugs vor weißem Hintergrund veröffentlicht worden, und ähnlich wie bei Cindy Sherman war es schwierig, selbst über die Google-Bildersuche ein Porträt zu finden – ein Effekt des radikalen Entzugs von Informationen, der im Zeitalter allgegenwärtiger Selbstinszenierung durchaus als provokant aufgefasst werden konnte und selbstverständlich die Neugierde des Publikums weckte. Erst nach ihrer Transition zu einer Frau zeigte sie sich der Öffentlichkeit, und zwar mit einer kalkuliert pathetisch anmutenden Ballade mit dem Titel It’s Ok to Cry (>>). In dieser geht es um die Utopie einer vorbehaltlosen und unverstellten emotionalen Begegnung zwischen zwei Menschen: Authentizität wird hier als neu gewonnene Dimension zwischenmenschlicher Beziehungen im Zeitalter einer auch durch Operationen und medizinische Behandlungen erreichten Ich-Konstruktion vorgestellt. In dem Video zeigt sie sich ihrem Publikum mit einem leicht verfremdeten Gesicht und einem unbekleideten Oberkörper vor wechselnden, offenbar bewusst generisch und kitschig wirkenden Naturhintergründen: eine geradezu triumphale Form der „Selbstentbergung“, die zugleich doch auch in ihrer unübersehbaren Künstlichkeit jeglichen Effekt von vermeintlich ursprünglicher Natürlichkeit vermied. In dem Video zum Song Faceshopping (>>) [Warnhinweis: Unter Umständen kann das Betrachten dieses Videos wegen schneller Lichtblitze epileptische Anfälle auslösen] dagegen sieht man eine Computeranimation ihrer Gesichtszüge in ständigen, für die Betrachtenden geradezu schmerzhaften Deformierungen. Im Gegensatz zum Video von Arca werden diese jedoch nicht in Verzerrungen und mit visuellen Störeffekten vorgeführt, sondern in verstörenden Torsionen des Antlitzes. Das Gesicht erscheint mal wie eine in sich verdrehte Gummimaske, dann ähnelt es wieder einem Luftballon, dem man die Luft auslässt. In einer weiteren Szene erscheint der Kopf präzise in Scheiben geschnitten; die einzelnen Teile zerfallen in Zeitlupe. Diese Szenen, die durch stakkatoartige Einblendungen von Wortfetzen und diversen Produkten (unter anderem aus der Kosmetikbranche) unterbrochen werden, sind dabei exakt mit der an Industrielärm erinnernden Elektromusik sowie von einer Frauenstimme vorgetragenen Lyrics abgestimmt. Eine Stimme, wie man sie aus Navigationsgeräten im Auto zu kennen meint, berichtet in lakonischen Merksätzen von der Formbarkeit des Gesichts und wohl auch der Identität im Zeitalter von Programmen wie Photoshop und allgemeiner noch der neoliberalistischen Subjektivierung: „My face is the front of shop. My face is the real shop front. I’m real when I shop my face.” Authentizität und Selbsterfahrungen können also nur noch im Zeichen der Warenförmigkeit erlangt werden. Die Idee der (De-)Konstruierbarkeit des Selbst wird dabei in audiovisueller Buchstäblichkeit durchgespielt. Als Betrachter*in gerät man bald schon in Zweifel, ob man dies nun als humorvollen Kommentar zu gegenwärtigen Selbstoptimierungstrends lesen soll – oder aber als geradezu apokalyptischen Abgesang auf eine emphatische Vorstellung vom freien und sich selbst gehörenden Subjekt.
Wechselwirkungen
Die streckenweise bewusst trashige Ästhetik dieser in ihrer Überspanntheit aufreizenden, medien- und gesellschaftskritischen Videos ist insgesamt näher an gegenwärtiger Medienkunst orientiert, wie sie zum Beispiel durch Hito Steyerl (*1966) vertreten wird, als an Erzeugnissen aus dem Bereich des Mainstream-Pop. Audiovisuelle Werke wie diese dürften geradezu Paradebeispiele dafür sein, wie in kulturellen Nischen „Ausfransungen“ bzw. Wechselwirkungen zwischen zwei unterschiedlichen Sphären – der Welt des Pop bzw. der experimentellen elektronischen Musik und derjenigen der Gegenwartskunst – entstehen. Für eine bildwissenschaftlich, interpiktural sowie intermedial orientierte Kunstgeschichte dürften hier einige Schätze für weitere Untersuchungen zu bergen sein.
Dr. DOMINIK BRABANT ist Stellvertretender Direktor des ZI.