Schöner Schluss

Ausschnitt einer Zeichnung einer Jalousien vor einem zitronengelben Hintergrund.
WOLFGANG AUGUSTYN

Das Problem ist bekannt, es betrifft Musik und Literatur. Es ist ein grundsätzliches Problem jeglicher Komposition, auch in den Bildenden Künsten. Wie soll man anfangen? Vor allem aber: Wie aufhören? Man kann die Antwort auf diese Frage ans Publikum delegieren wie Bertolt Brecht in seinem Parabelstück Der gute Mensch von Sezuan, an dessen Ende man selbst den Ausgang des Geschehens suchen soll:

„Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen. […]
Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andere Welt?
Vielleicht nur andere Götter? Oder keine? […]
Sie selber dächten auf der Stelle nach
Auf welche Weis dem guten Menschen man
Zu einem guten Ende helfen kann.
Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!
Es muss ein guter da sein, muss, muss, muss!“

Allerdings verweigerte sich Brecht mit diesem aporetischen Ende seines Theaterstücks einer langen Tradition. Dass ein schöner Schluss ziere, ist eine Aussage, die in der Häufigkeit ihres Gebrauchs nichts an Aussagekraft verliert: Erfahrene Rhetoriker raten dazu, das Ende einer Rede nicht nur mit dem Anfang zu verknüpfen, sondern auch mit einer Pointe zu schmücken, die den Zuhörenden in Erinnerung bleibt und der Rede nachhaltige Wirkung verleiht. Dass jedes Ende besondere Bedeutung habe, ist eine in vielen Kulturtechniken gespiegelte Erfahrung. Schreiber im Mittelalter setzten oft ans Ende von Texten ihren Namen wie eine Signatur, aber auch den Hinweis auf das damit erreichte glückliche Ende beschwerlicher Arbeit („Explicit foeliciter“). Im Zeitalter des Buchdrucks setzten die Drucker diese Praxis fort und platzierten einen entsprechenden Vermerk (mit Druckernamen, Druckort, Erscheinungsdatum) ans Ende des Buchs („Kolophon“). Vor allem im 17. und 18. Jahrhundert schmückte man Büchertitel, den Textbeginn, aber auch den Abschluss mit häufig ornamental gestalteten, sogenannten Titel-, Kopf- oder Schlussvignetten.

Als man 1967 in der Redaktion des Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte (RDK) Band V abschloss, kam die Idee auf, unter die beiden Spalten der letzten Seite eine zentrierte Abbildung zu setzen, die die Leser*innen am Ende des Buchs verabschieden sollte. Den Band beschloss der kurze Artikel Eselsritt von Volker Plagemann (1938–2012), der nach seiner Promotion in Hamburg von 1966 bis 1967 als Länder-Stipendiat am ZI auch in der Redaktion des RDK tätig war. Das Bildthema des Eselsritts bezog sich auf eine öffentliche „Schandstrafe“ im Mittelalter, die auch später noch unfolgsamen Schüler*innen auferlegt wurde.

Abb. 1: Neujahrsblatt, Kolorierter Kupferstich, München, 1. Drittel 19. Jh. (ehem. München, Kunsthandel)

Die letzte Abbildung des Artikels (Abb. 1) zeigt auf einem Münchner Neujahrsblatt aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zwei Schuljungen, die auf Eseln sitzend sich die Hände reichen. Dass die beiden diese Strafe nicht völlig ernst nehmen, sondern ihr etwas Parodistisch–Komisches abgewinnen können, legte der über den Reitern gedruckte Spruch nahe, der auch die mit diesem Neujahrsgruß Beschickten einbezog: „Wir bleiben die Alten!“ In der Redaktion des Lexikons, sonst um Seriosität bemüht, fand diese kleine ironische Brechung, die man nun damit auch dem in diesen Wunsch einbezogenen Nutzerkreis des Buchs zumutete, großen Anklang, auch wenn der damalige Institutsdirektor Ludwig Heinrich Heydenreich (1903–1978) als Mitherausgeber sein Unbehagen äußerte, dennoch aber nichts gegen diese kleine unernste Abweichung unternahm. Allerdings war damit eine stilistische Vorgabe in der Welt, die Nachfolge zu fordern schien und am Ende jedes neuen Bandes die Kreativität der Redaktionsmitglieder auf die Probe stellte. Dem zu genügen, gab man einige Male sogar das sonst nie verletzte Prinzip auf, die Abbildungen der Artikel immer chronologisch zu ordnen, also gegenläufig ergänzend zu dem in der Regel systematisch strukturierten Inhalt.

Abb. 2. Rolladen, Kupferstich, in: Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (Hgg.), Encyclopédie, Paris 1757, Tafelband 7, Taf. 6,2, Abb. 32 (nach dem Exemplar in der Bibliothek des ZI)

Am Ende von Band VI (1973) steht zum Schluss des Artikels Exoten von Ludwig Baron Döry (1924–2018) ein auf einer Fliese nach einer graphischen Vorlage wiedergegebener osmanischer Soldat, der sich – nun anderer Pflichten ledig – mit einem Arm lässig aufstützt (>>), während den Artikel Fensterladen von Adolf Reinle (1920–2006) und damit auch Band VII (1981) ein heruntergelassener Rolladen abschließt, Illustration zu Menuiserie in der Encyclopédie von Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert: ein Motiv, das keiner näheren Erklärung bedarf (Abb. 2).

Die letzte Abbildung des am Ende des Bandes VII (1987) nachgetragenen Artikels Festaufzug, Festeinzug von Rainer Roy und Friedrich Kobler zeigt einen Holzschnitt, den Donat Hübschmann 1566 in Wien veröffentlichte aus Anlass der gefeierten Ankunft Kaiser Matthias II. 1563 in Wien (>>). Das Ende des Einzugs durch die Ehrenpforte mit der Rückenansicht der Reiter und ihrer Pferde signalisiert auch das Ende des Bandes, während am Ende von Band IX mehrere lithographierte Bildtafeln eines Wiener Reisespiels um 1850 unter dem Titel Nichts ist mehr unmöglich nicht nur ein in vollem Wind fliegendes Luftschiff, ein Dampfschiff und ein Bahnhofsgebäude, alle reich beflaggt, zeigen und damit den Artikel Flagge von Friedrich Kobler abschließen, sondern auch – nicht ohne gewisse Selbstironie der Redaktion – das Ende des Bandes markieren (>>).

Da als Ergebnis der Evaluierung des ZI beschlossen wurde, das bereits seit 2007 online (RDK Web) zugängliche RDK nur noch digital fortzuführen, erscheint das Lexikon seit 2015 als Online-Plattform . Der letzte im Druck erschienene Band schließt mit dem Nachtrag Friede. Seine letzte Abbildung bietet die Unterzeichnung des Friedens von Versailles 1919 (Abb. 3).

Abb. 3: Sir William Orpen, Vertragsschluss in Versailles, 1918, Ölgemälde (London, Imperial War Museum)

Wer den Artikel gelesen hat, weiß, dass es sich beim Abschluss eines vertraglich vereinbarten Friedens zwischen vormaligen Gegnern um eine in der Moderne beinahe unüblich gewordene Praxis handelt, dies allerdings ein Verfahren, mit dem die Grundlage für eine gedeihliche Zukunft möglich ist. Dies schien ein schöner Schluss für den mit der Einstellung des Drucks geschehenen Abschied von einer jahrzehntelangen Publikationsform, zwar frei von Ironie, aber voller Zuversicht.

Prof. Dr. WOLFGANG AUGUSTYN ist stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte und apl. Prof. an der Ludwig-Maximilians-Universität München.