Simone Westermann über eine aufmüpfige Fliege. Ein Bildwitz um 1400?

Detail einer Buchmalerei. Das Porträt eines Mannes mit dunklen langen Haaren, vollem Bart und einer Krone im Profil gezeigt. Der Mann trägt ein orangenes Gewand und um ihn herum befinden sich viele große Fliegen. Ihm gegenüber steht eine Gruppe Menschen in farbigen Gewändern mit hochgezogenen Kapuzen.

Wenn im Bild eine Fliege auf der Nase einer Figur sitzt, kommt die/der Kunsthistoriker*in kaum umhin, sich an eine denkwürdige Künstleranekdote zu erinnern: Giorgio Vasari zufolge soll Giotto di Bondone in Absenz Cimabues eine kleine Fliege auf die Nase einer vom Meister gemalten Figur gesetzt haben (Giorgio Vasari: Das Leben des Cimabue, des Giotto und des Pietro Cavallini, übers. v. Victoria Lorini, hrsg. v. Fabian Jonietz u. Anna Magnago Lampugnani, Berlin 2015, S. 94). Zurückgekehrt erblickt Cimabue das Insekt und versucht es mehrmals vergeblich zu verscheuchen, bis er bemerkt, von seinem Schüler reingelegt worden zu sein.

Der/dem Leser*in wird hier Giottos seinen Meister überragendes Talent zur Mimesis vor Augen gehalten. Zuvor hatte schon Filarete berichtet, dass Giotto lebensecht aussehende Fliegen malte, die Cimabue mit einem Tuch versucht haben soll zu verscheuchen (Filarete, beginnend mit „di Giotto si legge…“, scheint die Anekdote einer anderen, heute verlorengegangenen, literarischen Quelle entnommen zu haben und so war die Künstlerlegende eventuell schon früher bekannt, vgl. Antonio Averlino detto il Filarete: Trattato di Architettura, hrsg. v. Anna Maria Finoli u. Liliana Grassi, Mailand 1972, S. 665). Mit der Anekdote verfestigt er spezifische Eigenschaften Giottos in der Kunstliteratur, die schon im 14. Jahrhundert (Boccaccio, Villani) die Figur des Künstlers umschreiben: seinen Witz, seine Klugheit und seine Gabe zur Naturnachahmung. Filaretes und Vasaris Versionen der Anekdote unterscheiden sich allerdings markant: von vielen Fliegen bleibt nur eine, von einer unspezifischen Positionierung erreicht das Insekt einen zentralen Ort des Bildes und des menschlichen Körpers, die gemalte Nasenspitze. Was sagt dies über die Anekdote und nicht zuletzt über die Fliege aus?

Bibbia Padovana, um 1400, Pergament, 325×230 mm, British Library © British Library Board (Add MS 15277, f. 5v)

Anstoß zu diesen Fragen gab eine trecenteske Bilderbibel. Die Bibbia Padovana entstand am Ende des 14. Jahrhunderts im Umfeld der Paduaner Werkstatt des Jacopo von Verona. Jedes Pergament der Handschrift wird von vier hochrechteckigen, jeweils mit roten Streifen gerahmten Bildern geziert, zwischen denen kurze Texte in Vulgärsprache den Bibeltext widergeben. In der Abbildung zu Ex. 8, 16-28 suchen Stechfliegen, eine der zehn Plagen, das Volk Ägyptens heim. Das kleine Bildfeld zeigt einen Dialog zwischen dem rechts gestikulierenden Pharao, gekrönt sowie mit Herrscherstab ausgestattet, und den ihm gegenüberstehenden ägyptischen Magiern, die letzterer zur Hilfe gerufenen hatte, doch welche sich im Angesicht der göttlichen Plage als machtlos erahnen. Vor ihnen tummelt sich Vieh, über dem überdimensional große Stechfliegen ihr Unwesen treiben und von denen eine den Pharao direkt auf die Nase sticht.

Fliegen fallen in der Paduaner Bilderbibel zwei Mal über das ägyptische Volk her: anstelle der Mückenplage als Stechfliegen („mosche canine le quale fortissimamente piu ponce cha le altre mosche commun“) und folgend als allgemeine Ungezieferplage („de ogni generation mosche“). Nicht nur wird hier für den lateinischen Begriff der „scinifes“ (eig. Mücke, Läuse) das italienische „mosca“ verwendet, Fliegen nehmen auch ganze vier Bildfelder der Exodus-Narration ein. Zudem sind hier die relative Naturnähe und die Größe der Fliegen beachtlich. Während die Frösche der gleichnamigen Plage proportional zum Bildpersonal und in den Bildraum integriert erscheinen, nähern sich die Zweiflügler eher der Größe realer Insekten an, die sich willkürlich auf der Bildfläche tummeln. Doch was hat es mit dem Nasenstich auf sich?

Die ausgelöste Irritation durch eine sich aufs Gesicht setzenden Fliege wird von Giovanni Boccaccio in seiner – sehr misogynen – Schrift Corbaccio (ca. 1366) eindrücklich beschrieben. Hier platziert sich eine Fliege auf das Gesicht der den Protagonisten abweisenden Geliebten. Diese, sich sonst als überaus schickliche Person gebende, geht in ihren antagonistischen Gefühlen der Fliege gegenüber („ira“/ „stizza“/ „veleno“) so weit, dass sie, so berichtet der Erzähler verspottend, wäre ihr ein Schwert in die Hand gefallen, mit der Fliege ein wahrhaftes Duell ausgefochten hätte. Die hier quasi anthropomorphisierte Fliege – ein Topos in ihrer literarischen Karriere (ansatzweise schon bei Franco Sacchetti, Nov. XXI der Trecentonovelle) – kehrt den wahren Charakter der idealisierten Geliebten heraus und birgt den Rat des Erzählers, der verzweifelte Protagonist verschwende seine Liebe an eine ihn täuschende Person.

Bibbia Padovana, um 1400, Pergament, 325×230 mm, British Library © British Library Board (Add MS 15277, f. 15v)

Die Rolle der Fliege im Corbaccio und der Bilderbibel ähneln einander, denn sie erwirkt eine Umkehrung der Verhältnisse: Die sich als perfekt gebende Geliebte gerät ins Lächerliche, der mächtige Pharao kann dem Stich der Fliege nichts entgegensetzen und – die Geschichte weitergedacht – wird mit einer vom Stich dick und rot aufquellenden Nase eine ebenso lächerliche Figur abgeben. Hier zeigen sich anfängliche Spuren der Erfolgsgeschichte des Insektes als literarisches und künstlerisches Motiv, wie sie ab dem 15. Jahrhundert mit Leon Battista Albertis Schrift Musca und der enkomionschen Lukian-Rezeption der Vormoderne immer greifbarer wird (Hartmut Böhme: Der Auftritt der Fliege, in: Performing the Future. Die Zukunft der Performativitätsforschung, hrsg. v. Erika Fischer-Lichte u. Kristiane Hasselmann, München 2013, S. 91–94; André Chastel, Musca depicta, Mailand 1984).

In der Paduaner Bilderbibel, in der das Künstlerdasein mit den Figuren des Bezaleel und Oholiab eine anschauliche Präsenz einnimmt, scheint die Fliege hier die künstlerischen Möglichkeiten von Witz und Subversion evident zu machen. Ob die Anekdote von Giottos Fliegen in spättrecentesken Künstlerwerkstätten im Umlauf war, bleibt eine offene Frage. Doch der schon im 14. Jahrhundert ersichtliche herausfordernde Charakter der Fliege verweist auf ihr Potential in Literatur und Kunst: Die subversive Gabe soziale Strukturen umzukehren oder aufzudecken; den Pharao zum Untertan oder den Schüler zum Meister zu machen.


SIMONE WESTERMANN, M.A. ist Stipendiatin des Freistaates Bayern am Zentralinstitut für Kunstgeschichte.