Spiegel der Gewalt: Elisabeth Schulte über Harald Pickerts Zyklus „Pestbeulen Europas“

Auf einem Tisch mit einem Glasdeckel liegen einige Zeichnungen und ein Bilderrahmen.

Eine nackte Frau betrachtet sich in einem kleinen Spiegel. Im Haar trägt sie ein Diadem und ihre rechte Hand ist kokett an den Hals gelegt.
Ob ihr gefällt, was sie im Spiegel sieht? Ist sie sich bewusst, dass sie ausgemergelt wirkt, dass ihre Beine von eiternden und schmerzenden Wunden übersät sind?
Hat sie die drei an Galgen baumelnden Figuren im Hintergrund bemerkt?

Diese allegorische Darstellung der Europa, die gleichgültig zu sein scheint gegenüber den erfahrenen Gräueltaten und den eigenen Wunden, hat der Zeichner Harald Pickert 1945 als Titelbild für seinen Werkzyklus Pestbeulen Europas ausgesucht – eine schonungslose Verarbeitung seiner Haftjahre in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. (Abb. 1) Tragischerweise spiegelt eben diese gleichgültige Europa auch die Reaktion, die Pickert in den unmittelbaren Nachkriegsjahren von seinem Umfeld erfahren musste, als er über seine Erlebnisse Zeugnis ablegen wollte.

Abb. 1: Titelblatt von Harald Pickerts Werkzyklus „Pestbeulen Europas“, 1945, Courtesy Elke Pickert

Schaut man sich das Titelblatt genauer an, kann man mit Bleistift gezogene Linien zur Ausrichtung der Buchstaben und ausradierte Worte erahnen. Neben der Dokumentation der grauenvollen Realität, die Pickert als Häftling in den Konzentrationslagern durchleben musste, geben seine Skizzen, Zeichnungen und Radierungen auch Einblicke in den künstlerischen Prozess.

Er fertigte bereits kurz vor oder nach seiner Befreiung im Konzentrationslager Dachau Skizzen an, die seine Erlebnisse bildlich festhielten – zum Teil auf Kartonstückchen, Butterbrotpapier und offiziellem Papier des Konzentrationslagers, denn Papier war ein rares Gut.
Die Entwicklung der Skizzen zu Tuschezeichnungen und Radierungen lässt sich in der Ausstellung Harald Pickert: Die Pestbeulen Europas. Naziterror in Konzentrationslagern, 1939-45 des NS-Dokumentationszentrums und des Zentralinstituts für Kunstgeschichte eindrücklich nachvollziehen, die bis 29. Juli 2020 eine Auswahl von Arbeiten Pickerts zeigt. (Abb. 2)

Abb. 2: Gewaltszene in einem Konzentrationslager, Skizze von Harald Pickert, Courtesy Elke Pickert

Der 1901 geborene Harald Pickert verbrachte seine Jugend in Kufstein und übernahm nach einer Ausbildung zum Maler und Radierer 1928 den väterlichen Verlag und die Druckerei. Da der Künstler und Verleger offene Kritik am Nationalsozialismus übte, wurde er 1939 als „politischer Häftling“ verhaftet.
Die kommenden fünfeinhalb Jahre verbrachte Harald Pickert als Häftling in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Mauthausen und Dachau.

Der 1946 im Tiroler St. Anton von Harald Pickert zusammengestellte und herausgegebene Werkzyklus Pestbeulen Europas, der drastisch die in den Lagern erlebte Gewalt dokumentierte, stieß in den unmittelbaren Nachkriegsjahren kaum auf Interesse und Pickert sprach nie wieder über seine Erlebnisse. Er starb 1983 in Kufstein.
Erst 2015 wurden die Zeichnungen in seinem Nachlass wiederentdeckt und seitdem von seiner Enkelin Elke Pickert online und in Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Pickert versah die meisten seiner Zeichnungen mit Kommentaren, die den Betrachtenden nicht nur zusätzliche Hintergrundinformationen zu den dargestellten Szenen bieten, sondern durch ironisierende Gegenüberstellungen auch zum weiteren Nachdenken einladen.

Mit seinen schonungslosen Zeichnungen wollte Harald Pickert der Nachkriegsgesellschaft den Spiegel vorhalten und sie zwingen hinzuschauen auf die „Pestbeulen Europas“.
Aber diese offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war gesellschaftlich und politisch nicht gewollt – und so packte Pickert seinen „Spiegel“, seine Zeichnungen, seine Erinnerungen weg und schwieg.

Was wäre wohl passiert, wenn Harald Pickert seine Bilder in den sozialen Medien hätte posten können? Hätten sie sich viral in den sozialen Netzwerken verbreitet und einen Sturm der Empörung und Proteste ausgelöst? Oder wären sie untergegangen in der Flut der Bilder, wie sie heute alltäglich auf uns einprasselt? Und wie hätte jede*r einzelne von uns auf diese drastischen Darstellungen von Gewalt und Grausamkeit reagiert?

Diese letzte Frage ist leider keine hypothetische, denn täglich erreichen uns Nachrichten und Bilder, die von Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit in unserer Zeit berichten. Wie lautet unsere Antwort?

ELISABETH SCHULTE ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums München