Ursula Ströbele zu pandemischen Tierbildern in den digitalen Medien. „Mother Earth is Rebooting“

Zwei Wildschweine auf einem Zebrastreifen, freigestellt vor zitronengelbem Hintergrund.

Zwei Wildschweine streifen hintereinander über eine leere Straße und beschnüffeln den Boden des Asphalts, nur umgeben von parkenden Autos und einer einzelnen Person im Hintergrund. Die Bildunterschrift klärt darüber auf, dass es sich um eine Szene inmitten eines Wohngebiets in Haifa handelt, datiert auf den 16. April 2020 (Abb. 1).

Abb.1: Wildschweine überqueren eine Straße in einem Wohngebiet, nachdem die Regierung die Bewohner aufgefordert hatte, zu Hause zu bleiben, um die Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit (COVID-19) zu bekämpfen, in Haifa, Nordisrael, 16. April 2020, REUTERS/Ronen Zvulun
Abb.2: Malabar-Zibet, Twitter Post, 20. März 2020

Ortswechsel: Ein Fuchs trägt ein erlegtes Eichhörnchen im Maul über eine Straße in Ontario, ein vom Aussterben bedrohter Malabar-Zibet läuft am helllichten Tag in der indischen Stadt Calicut über eine Kreuzung (Abb. 2), ein Reh überquert eine üblicherweise dicht befahrene, nun leergefegte Straße, ein Puma pirscht sich neugierig auf dem Gehweg durch das leere Santiago de Chile… die Liste ließe sich fortsetzen. Gemeinsam haben diese meist seltenen, gefährdeten tierlichen Protagonisten, dass sie verlassene städtische Räume zu erkunden scheinen, während die Menschen coronabedingt zu Hause blieben. Verstärkt wird der bildinhärente Kontrast zusätzlich, wenn die Tiere menschliche Infrastrukturen nutzen und sich an Straßenverkehrszeichen wie dem Zebrastreifen „orientieren“.
Seit dem Ausbruch der Pandemie ist eine Vielzahl institutioneller (u.a. Pandemic Objects V&A London https://www.vam.ac.uk/blog/pandemic-objects, CORONArtHistoryBonn https://www.khi.uni-bonn.de/de/forschung/coronart/coronarthistorybonn) und privater Bildsammlungen entstanden, die als visuelle Zeugnisse das veränderte Alltagsleben während der Lockdowns dokumentieren, darunter Kinderzeichnungen zum (unsichtbaren) Virus, Fotografien von leeren Städten, Protestschilder und Selbstportraits digitaler Streikformen, Verhaltenskodizes zu Hygienemaßnahmen, Diagramme zu Inzidenz- und Impfraten und Solidaritätsbekundungen (vgl. Workshop Digital Realities. Political Imagery and Mediatized Nature in Times of Covid-19, Dezember 2021, mit Steffen Haug/Bilderfahrzeuge, Warburg Institute, London). Zu den Hoffnung versprechenden und Sehnsüchte weckenden Bildern gehörten die Aufnahmen, die zeigen, wie Tiere sich die weltweit leeren Städte während der Ausgangssperren aneignen. Sie werden von Schlagzeilen und Textkommentaren begleitet, die das Narrativ einer sich Raum zurückerobernden und damit genesenden Natur bedienen: Nature Takes Over […], Mother Earth is Rebooting, Nature is Returning oder Coronavirus: Wilde Tiere genießen die Freiheit einer ruhigeren Welt. Evident wird hier das erneute Aufrufen des in den Diskursen zum Anthropozän, (Post)-Nature und Posthumanismus längst als obsolet entlarvten Singulars einer unberührten Natur in Opposition zu Mensch bzw. Kultur.

Die die Straßen und den Kirchhof von Llandudno in Nordwales erobernden Kaschmirziegen wurden in wiederholten Aufnahmen als pittoreskes und trostspendendes Bildmotiv auf den Kanälen der Sozialen Medien und in der Presse geteilt, gelikt und kommentiert. Diese und vergleichbare Bilder, etwa eine den verlassenen Campus der Universität in San Diego belebende Schildkröte, die ein Café passierende Pinguingruppe oder das durch die Straßen der australischen Metropole Adelaide hüpfende Känguru oszillieren zwischen Projektionsfläche für die Sehnsucht nach einem propagierten harmonischen Einklang von Natur und Mensch als Anspruch zeitgemäßer Konvivialität und einer offensichtlichen Entfremdung des urban überformten vom ursprünglichen Lebensraum.
Gleichzeitig illustriert diese Bildgattung der pandemischen Natur- und Tierbilder die wirtschaftliche Lähmung durch die Coronavirus-Krise und eine Erinnerung an die ambivalenten, komplexen Beziehungsgeflechte zwischen Mensch und Tier. Besonders synanthrope Arten, d.h. Kulturfolger leben in enger Abhängigkeit vom Menschen, wie zum Beispiel die viral gegangenen Bilder und Videos hungriger Affen in Lopburi, einer Stadt in Thailand nordöstlich von Bangkok, die von Besucher*innenscharen angezogen werden und ohne diese kaum überleben können. So hat der Einbruch des internationalen Tourismus bei vielen Wildparks zu starken Einnahmeverlusten geführt, die Budgets wurden gekürzt und längerfristige Schließungen drohen.
Das Narrativ einer verwundeten Natur, die sich ihren Raum zurückerobert und damit wieder erstarkt, geht einher mit dem Narrativ der Verantwortung, aber auch mit der Frage nach der Schuld. Parallel zur scheinbar zuversichtlichen Rhetorik der genannten Fotografien existiert eine Vielzahl von Artikeln und Bildern, die Schuppentiere und Fledermäuse als Träger und mögliche Wirte des Virus darstellen – nicht immer mit einer Erklärung über den Verkauf von Wildtieren, artfremder Haltung und erzwungenen Artenwanderung als Quelle der zoonotischen Infektion. Auch diese (inzwischen selbst historischen) Bilder unterstreichen den Dualismus von heilender Natur versus einer propagierten gefährlichen Natur, d.h. eigentlich eines gefährlichen Umgangs des Menschen und die Disparatheit von Kultur und Natur – gespiegelt im provozierten Janusgesicht der Natur selbst und ihrer durch bestimmte Spezies verkörperten Wirkmacht.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt ähnliche Bildrhetoriken von Tieren als Protagonisten in verlassenen städtischen Territorien und sogenannten post-anthropozentrischen Orten, die Reminiszenzen an „Dritte Landschaften“ (tiers paysage) Gilles Cléments aufrufen (Manifest der Dritten Landschaft, Berlin: Merve 2010). Der französische Landschaftsarchitekt Clément verweist auf urbane Brachflächen, die wieder aufblühen, nachdem sie vom Menschen verlassen wurden. Zu differenzieren ist bei allen diesen Bilddokumenten der jeweilige historisch-politische Kontext, dessen Produktion, Verbreitung und Rezeption sowie zeitbasierte semantische Änderungen: Was ist die ihnen innewohnende Wirkungskraft, ihr Adressatenfeld und zugleich ihr Widerstandspotenzial, und welchen Status haben sie in unserer bildaffinen Kultur? Wie lässt sich das Verhältnis von Text und Bild beschreiben? Wer sind die Produzent*innen dieser Bilder und wie sind ihre Distributionsinfrastrukturen zu analysieren?

Drei einschneidende Ereignisse der jüngeren Geschichte mögen hier als Beispiele dienen: der Bau und spätere Rückbau der Berliner Mauer und damit verbundene Todesstreifen, die kontaminierten Gebiete von Tschernobyl und Fukushima, aber auch stillgelegte Kohleabbaugebiete. Während Bilder mit überwucherten Industriehallen eine Art zeitgenössische Neoromantik evozieren, dokumentieren andere eine ambivalente, zwischen Apokalypse und Sehnsuchtsvorstellung oszillierende Atmosphäre, wie leere Autobahnkreuzungen oder paradiesische Strände ohne sonnenbadende Touristen.

Was viele dieser Pandemie-Bilder gemeinsam haben, ist die Dialektik von Fülle und Leere, von Lärm und Stille: Leere Städte, spärlich bevölkert von meist unsichtbaren/übersehenen Tieren, die eine erschreckende Ähnlichkeit mit dystopischen Endzeitszenarien aufweisen, wie die Piazza Navona in Rom, die normalerweise von Tausenden Besucherinnen, Cafés und Märkten in Besitz genommen, im Lockdown 2020 aus den Pflastersteinen sprießende Grashalme zeigte und konträr dazu überfüllte städtische Parkanlagen, in denen Natur als anthropogene Erholungsressource und oft einzige Legitimation fungierte, die eigene Wohnung während der Sperrungen zu verlassen.

Ihre globale Verbreitung verleiht diesen Bildern oft Glaubwürdigkeit, ohne dass Strategien der Verifizierung angewandt werden oder überhaupt existieren, um Desinformationen kritisch zu begegnen. Diese Verheißung von Bildern im Anthropozän zeigt sich u.a. auch an der Fotografie von Delfinen in den Kanälen Venedigs, die im März 2020 als Zeichen einer Rückeroberung der vom Menschen dominierten Natur durch die Tierwelt viral ging, obwohl es sich nicht um Fotografien aus der Lagunenstadt handelte, wie eine nachträgliche Identifizierung von Standbildern ergab (vgl. ZI Spotlight, Ephemere Bilder zu Zeiten von Covid-19, 25. Mai 2020). Ein Pandemiejahr später, und damit ein Jahr mit deutlich reduziertem Tourismus und Verkehr, titelten einige Zeitungen erneut über die Sichtung von Delfinen in Venedig, die nun durch mehrere Fotografien belegt wurde.

Der digitale Charakter der Bilder lässt diese zu weit verbreiteten Projektionsflächen mutieren, die die Rückversicherung einer Ersten Natur in dieser Form einer „sozial konstituierten“ (Gernot Böhme), domestizierten Dritten Natur (Hartmut Böhme) zu versprechen scheinen. Für das suggerierte Wirkpotential der teils ephemeren visuellen Dokumente spielt die Sehnsucht nach Authentizität und der Wille zum Vertrauen in diese als Gegenerzählung in Zeiten von Trauer und Leid eine entscheidende Rolle. Gleichzeitig fordern sie eine Klärung zukünftiger Formen von Konvivilität in einem gemeinsamen Habitat. Natur per se scheint keiner Erklärung zu bedürfen, weil sie ideologisch betrachtet, oftmals immer noch als ursprünglich, zugänglich und vertraut gilt. Trotz aller Abwesenheit menschlicher Figuren bleiben in diesen pandemischen Tierbildern ihre Spuren präsent – sei es in Form von Infrastrukturen und Architektur oder im Kameraauge desjenigen, der die pandemischen Folgen für globale Ökosysteme und Lebewesen dokumentierte.

Dr. URSULA STRÖBELE ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Leiterin des Studienzentrums zur Kunst der Moderne und Gegenwart.