Ursula Ströbele zu zeitgenössischer Kunst und künstlicher Intelligenz – Andreas Greiner

Ein großer Raum mit einer grünen und einer Fachwerkwand mit Fenstern. An der grünen Wand hängt ein großes gerahmtes Bild einer Naturszenerie. Davor hängen einige schwarze Pflanzenkästen von einem Gitter an der Decke herab. In diesen befinden sich grüne Pflanzen und jeweils eine Wasserflasche zur Bewässerung.

Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Neuronale Netzwerke bilden ein technologisches Werkzeug, mit dem sich Künstler*innen der Gegenwart auf vielfältige Weise auseinandersetzen – so #1 – Morehshin Allahyari und #2 – Egor Kraft (ZI Spotlight 21.4.2020 >>), #3 – Gretta Louw (>>) oder Andreas Greiner, der im Zentrum des vorliegenden Beitrags steht. Greiner entwirft die spekulative Cyberökologie eines Walds von morgen.

#4 – Andreas Greiner

Abb. 1: Andreas Greiner, Flying through space and time in a year without a winter, 2019, Installationsansicht Everything is going to be alright, Andreas Greiner und Maximilian Prüfer, DG Kunstraum München, courtesy of the artist and Dittrich & Schlechtriem, Photo: Maximilian Prüfer
Abb. 2: Andreas Greiner, Flying through space and time in a year without a winter, 2019, Installationsansicht Signs of Life, Mönchehaus Museum Goslar, courtesy of the artist and Dittrich & Schlechtriem, Photo: Jens Ziehe

Was versteht eine Künstliche Intelligenz unter Wald und wie sieht der Wald der Zukunft aus? Andreas Greiner reflektiert mit seinen skulpturalen Rauminstallationen künstlerisch die extraterrestrischen Exit-Strategien, indem er einen schwebenden Mischwald aus Baumsetzlingen in Taschen, wie sie die NASA für ihre Weltraumforschung (plant pillows) nutzt, vor Augen stellt – so in Flying through space and time in a year without a winter (Abb. 1/2) (2019, DG Kunstraum München‚ ‚Everything is going to be alright‘, Andreas Greiner/Maximilian Prüfer, bis 29.10.2020 >>). Auch trainiert er in Jungle Memory (seit 2017) mit dem Programmierer Daan Lockhorst einen Algorithmus, damit dieser lernt, was ein Wald ist. Mit Tausenden von Fotografien aus selektiv gewählten Wäldern, darunter dem Waldbestand auf Vilm, einer kleinen unter Naturschutz stehenden Insel bei Rügen, die schon Carl Gustav Carus faszinierte, dem Białowieża-Wald in Polen und Weißrussland, einem der letzten Urwälder Europas sowie dem Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen wird der Algorithmus ‘gefüttert‘, um aus diesem Datenmaterial seine Vorstellung von Wald zu generieren (>>). In Lost in the Woods II (2019) morphen diese Bildergebnisse in einer Art filmischen ‘Tanz der Bäume‘ ineinander und vermitteln einen Eindruck, welche Parameter der Computer in seinem ‘Lernprozess‘ durchspielt.

Abb. 3: Andreas Greiner, Jungle Memory, 2020, Ausstellungsansicht Dittrich & Schlechtriem, courtesy of the artist and Dittrich & Schlechtriem, Photo: Jens Ziehe

Für seine jüngste Version von Jungle Memory (Abb. 2) (Jungle Memory, Dittrich Schlechtriem Berlin, bis 31.10.2020 >>) hat Greiner den Algorithmus mit Bildern aus dem durch Trockenheit und Käferbefall bedrohten, sterbenden Wald im Harz bei Goslar trainiert.

Andreas Greiner, Abschied (Harz), 2020

Die vorwiegend aus Fichten bestehenden, von den sogenannten Kulturfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeforsteten ‘Baumplantagen‘ sind durch ihre kahlen, grau-silbern schimmernden Stämme gut erkennbar. Hinterlegt ist das Video mit einem gleichfalls düster-bedrohlichen Sound, indem Felix Mendelssohn-Bartholdys Abschied vom Walde verlangsamt abgespielt und algorithmisch an die Dynamik des Videos gekoppelt ist.

Jungle Memory ist nicht nur ein digital generiertes Bildarchiv, sondern auch der Erinnerungsspeicher einer spekulativen Zukunft, in der Bäume oder Wälder als virtuelle Simulationen existieren. Diese apokalyptische Vorstellung demonstriert den täglichen Widerspruch, in dem wir uns als Akteure dieses komplexen, terrestrischen Ökosystems bewegen. Handlungen haben globale Auswirkungen; das dynamische systemische Geflecht zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Spezies ist konstitutiv für die Existenz aber auch für die Fragilität der Biosphäre, bestehend aus der Gesamtheit aller Organismen, wie sie u.a. seit den 1960er-Jahren die Gaia-Hypothese von Lynn Margulis und James Lovelock beschreibt.
Aus dem Projekt heraus entstand eine Kalkulation zum Energiebedarf der Computerberechnungen und des Machine Learning inklusive AWS Cloud-Computing: Der Verbrauch von Jungle Memory lag etwa so hoch wie der durchschnittliche Verbrauch einer Person in Deutschland im Jahr 2017. Der Modellvergleich belegt die ungeheure Strommenge dieser virtuellen Transaktionen, deren materielle Realitäten sich in riesigen, energieintensiven Serverfarmen manifestieren. Durch die scheinbare Immaterialität der ‘Cloud‘ geraten die Auswirkungen des globalen Cyber Waste in den Hintergrund; User hinterlassen mit jeder E-Mail ihre CO2 -Spuren. Ungefähr 880 Buchen müsste Greiner demzufolge pflanzen, um die durchschnittliche CO2-Produktion pro Kopf in Deutschland im Jahr 2017 zu kompensieren – nicht eingerechnet Projekte wie Jungle Memory und vorausgesetzt die Bäume leben ein langes, gesundes Leben mit stetigem Wachstum.

Dr. URSULA STRÖBELE ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Leiterin des Studienzentrums zur Kunst der Moderne und Gegenwart.

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