Was haben „Raucher“ mit „Muschelessern“ zu tun? Kann es sein, dass ein und dasselbe Gemälde zwei so unterschiedliche Titel trägt?
Wenn im Karteiensystem der Kunsthandlung Julius Böhler verschiedene Karten Auskunft über ein Objekt geben, so lassen die Titel in der Regel den Zusammenhang erkennen. Dieser wird zudem durch handschriftlich notierte Nummern hergestellt, aber auch durch die Ankaufs- oder Verkaufsdaten der beiden Schwesterfirmen „Julius Böhler München“ und „Kunsthandel AG Luzern“ (KHAG).
Bei der laufenden Erfassung des Karteiensystems in unserer Datenbank ist es uns wichtig, diese Zusammenhänge durch Verknüpfungen sichtbar zu machen, damit man die verschlungenen Wege eines Werkes so gut wie möglich nachvollziehen kann. So befinden sich beispielsweise im Jahrgang 1919 kurz hintereinander zwei Karteikarten, die beide ein Gemälde des niederländischen Malers Jan Steen (1626–1679) mit dem knappen Titel „Raucher“ führen. Sie unterscheiden sich in ihrer Farbe: die beige Karte weist auf einen Ankauf durch den Münchner Stammsitz hin (19-0518), die rosa Karte auf Kommissionsware (19-0622). Letztere vermerkt auf der linken Seite die Nummer der ersteren und belegt so den Zusammenhang. Die frühere Münchner Karte hingegen enthält die Nummer 06281, die auf einen früheren Besitz Böhlers im Jahr 1906 verweist. Leider existiert keine entsprechende Karteikarte mehr, da in der Anfangsphase der Kunsthandlung nach erfolgreichem Verkauf eines Werks die entsprechende Karte entsorgt wurde. Doch im Lagerbuch, das im Bayerischen Wirtschaftsarchiv (BWA) verwahrt wird, ist das Steen’sche Gemälde nachgewiesen.
Was verraten nun die vorhandenen Karteikarten über die Transaktionen? Am 14.10.1919 veräußerte der Münchner Lederwaren-Fabrikant Franz Hesselberger (1876–1935) das Steen‘sche Gemälde für 4.000 Mark an Böhler. Nur sechs Tage später verkaufte es die Münchner Firma für 6.000 Mark an ihre Luzerner Schwesterfirma, die KHAG, die im selben Jahr vom Junior der Familie, Julius Wilhelm Böhler (1883–1966), und dem Kölner Kunsthändler Fritz Steinmeyer (1880–1959) gegründet worden war. Weitere sieben Tage später gab die KHAG Luzern das Bild für sagenhafte 25.000 Mark erneut nach München, nun als Kommissionsware. Noch am selben Tag, am 27.10.1919, gelang Böhler der Verkauf an einen seiner besten Kunden, den ungarischen Finanzmagnaten und Kunstsammler Marcell von Nemes (1866–1930), für ebenjenen Preis. Nach Abzug von Steuer und Kommission blieb ein Gewinn von 20.250 Mark.
Da das Zentralinstitut für Kunstgeschichte auch die Kartei der KHAG Luzern besitzt, lässt sich eine dritte Karte konsultieren. Tatsächlich findet sich dort für Oktober 1919 ein Nachweis, der den Ankauf eines Gemäldes von Jan Steen von Böhler vermerkt. Die Preise stimmen überein: 6.000 Mark für den Ankauf, 20.250 Mark für den Gewinn. Doch unterscheidet sich die Karte maßgeblich im Titel und leicht in den genannten Tagen. Der Ankauf fand am 7.10. und nicht am 14.10. statt, der Verkauf am 24.10. und nicht am 27.10. Eine Ungenauigkeit, die vielleicht noch tolerierbar wäre (ein Übermittlungsfehler? Ein schlampig arbeitender Angestellter? Eine Verschiebung in der Rechnungsstellung?). Aber der Titel? Er lautet: „Die Muselessern, mehrere Figuren in Interieur im Vordergrund ein alter Mann mit Hut u Mantel am Tisch sitzend“. Nichts deutet auf den Zusammenhang mit einem „Raucher“ hin.
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Glücklicherweise befindet sich in den Fotomappen der Kunsthandlung Böhler eine Abbildung des Steen‘schen Gemäldes, das Aufklärung verspricht. Es zeigt zwei Herren an einem Tisch in einer Schenke sitzend, im Hintergrund die Wirtin und ein weiterer Gast. Während der eine Gast am Tisch etwas liest, genießt der Mann mit Hut und Mantel im Zentrum des Bildes sein Getränk, nachdem er zuvor Muscheln gegessen hatte. Die auf dem Boden verteilten leeren Schalen verraten den Verzehr. Auf dem Tisch ist seine Pfeife platziert, die ihn als Raucher zu erkennen gibt. Es handelt sich also um einen muschelessenden Raucher oder einen rauchenden Muschelesser.
Die Fotomappe ist im Übrigen mit der frühen Nummer 06281 beschriftet, die auch auf der Münchner Karteikarte von 1919 gestanden hatte – ein weiterer Beweis, dass Böhler das Bild tatsächlich schon einmal 13 Jahre zuvor angekauft hatte. Das im BWA verwahrte Lagerbuch von 1906 führt für das Gemälde den passenderen Titel „Großer alter Mann mit Hut“. Ebenfalls im BWA hat sich für das Steen’sche Gemälde eine Rechnung vom 17.10.1919 von Böhler an die KHAG Luzern, zu Händen des in München ansässigen Schweizer Konsuls Arnold Haefeli erhalten. Er war zugleich Vizepräsident des Verwaltungsrates der KHAG. Und so ging das Bild physisch gar nicht nach Luzern, sondern verblieb die ganze Zeit in München, wo es Böhler als Kommissionär für die KHAG verkaufte.
Ist damit also bewiesen, dass es sich um ein und dasselbe Gemälde handelt, sodass wir die Karten in der Datenbank beruhigt verknüpfen können? Beweist das Foto aufgrund des Motivs den eindeutigen Zusammenhang? Steen malte das Motiv mehrfach.
Heute lassen sich zwei fast identische Varianten des Gemäldes eruieren. Eines befindet sich im Smith College Museum of Art in Northampton, MA, und trägt den passenderen Titel The Drinker, das andere – eine Kopie – im Staatlichen Museum Schwerin und heißt – ebenfalls passender – In der Schenke. Letzteres wurde bereits zwischen 1725 und 1792 erworben und kann somit nicht bei Böhler gewesen sein. Ersteres hingegen ist – anders als das Böhler’sche Bild – signiert. Der Verbleib weiterer Varianten, die in der Literatur erwähnt werden, ist heute unbekannt. Das Böhler’sche Gemälde tauchte jedoch erneut 1932 auf, als es ein heute unbekannter Berliner Kunde namens Blumenfeld in die Auktion des Münchner Versteigerers Hugo Helbing einlieferte. Es wurde allerdings nicht verkauft und an Blumenfeld retourniert. Danach verlieren sich die Spuren.
So stehen sechs Titel für das Bild im Raum: „Raucher“, „Muschelesser“, „Trinker“, „In der Schenke“, „Großer alter Mann mit Hut“ und „Wirtsstube“. Wir haben es mit einem klassischen Problem der Kunstgeschichte zu tun, das insbesondere bei der Gattung der Genrebilder forciert zu Tage tritt. Doch dieses Problem gewinnt in unserem Kontext eine neue Dimension angesichts des grundsätzlichen Spannungsverhältnisses von Diskretion (als dem Grundprinzip von Handel und Persönlichkeitsrechten) und Transparenz (der omnipräsenten Forderung der Gegenwart, im Bereich des NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts ebenso wie beim Informationsfreiheitsgesetz). Auch scheinbar banale Arbeitsschritte wie Transkription, Erschließung und Verknüpfung müssen sich zu dieser Gemengelage von Aussage und Verschleierung verhalten. Parallele Organisationsstrukturen der Kunsthandlung Böhler mit ihren Zweigniederlassungen, Filialen, Metageschäften, temporären Konsortien, Partner- und Teilhaberschaften sowie Kommissions- und Kreditgeschäften führten fraglos zu einer Intransparenz, die damals schon und heute erst recht schwer einzuschätzen ist. Und so stellt sich nicht allein die Frage nach dem Verbleib des Gemäldes, sondern insbesondere auch nach dem Geschäftsgebaren Böhlers. Fragen, die nur unter größerem Rechercheaufwand, vielleicht aber auch gar nicht geklärt werden können: Wurde der Titel des Bildes absichtlich geändert? Mit welchem Ziel? Sollte etwas verborgen werden? Oder waren es gar zwei verschiedene Werke, mit denen Böhler gleichzeitig handelte? Auffällig ist jedenfalls der erkennbare Erfolg von Böhlers Geschäftspraxis, denn immer wieder lassen sich bei diesen Transfergeschäften erstaunlich hohe Gewinnspannen ablesen.
Dies war die 4. Nachricht aus dem Archiv Julius Böhler, Fortsetzung folgt …
Dr. BIRGIT JOOSS ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Projektleiterin des Forschungsprojekts „Händler, Sammler und Museen: Die Kunsthandlung Julius Böhler in München, Luzern, Berlin und New York. Erschließung und Dokumentation der gehandelten Kunstwerke 1903-1994“.