Christine Tauber über eine vergessene Pilgerstätte für Royalisten

Hinter einem spitzen Eisenzaun, liegt der Eingang zu einer Kirche. Er wird links und rechts von Halbsäulen begrenzt und von einem Kreuz bekrönt. Vorne rechts im Bild, steht ebenfalls ein großes Kreuz aus Stein.

PARISER TROUVAILLE NR. 3

Selbst ausgewiesene Paris-Kenner kann man in Erstaunen versetzen, wenn man sie ins 17. Arrondissement zur Chapelle Notre-Dame de la Compassion führt. Diese auch Chapelle Saint-Ferdinand genannte Kapelle in neobyzantinischem Stil wurde 1843 als Memorialstätte für den ältesten Sohn des Bürgerkönigs Louis-Philippe, Ferdinand Philippe, Duc d’Orléans, an derjenigen Stelle errichtet, an der dieser bei einem Unfall mit einer durchgehenden Pferdekutsche am 13. Juli 1842 zu Tode kam.

Abb. 1: Eglise Notre-Dame de la Compassion, Paris, 17. Arrondissement, Entwurf von Pierre Fontaine, 1843 (Foto: wikimedia commons)

Die Entwürfe zu den neoklassizistischen Glasfenstern im Inneren stammen von Ingres, den der Duc d’Orléans hochschätzte und der ihn mehrfach porträtierte. In den drei Rosetten findet man die theologischen Tugenden (Glaube, Liebe, Hoffnung) und in den Fenstern 12 heilige Patrone des französischen Königtums, darunter den hl. Philipp (gegeben als Porträt des jugendlichen Louis-Philippe), die hl. Amélie (ein Porträt der Königin) und den hl. Ferdinand als Rollenporträt des Verstorbenen.

Abb. 2: Eglise Notre-Dame de la Compassion, Glasfenster von Ingres (Foto: C. Tauber)

Der anrührende Kenotaph mit der Liegefigur Ferdinands von Henry de Triqueti und die Pietà-Gruppe desselben Bildhauers verklären den Toten christusgleich und machen die Kapelle zu einem Ort der „compassio“ an dem unersetzlichen Verlust des als Thronfolger wichtigsten Mitglieds des gerade erst mühsam wieder reinstallierten Königtums. Zugleich wurde hier für einen hochkultivierten Freund der Künstler und Hoffnungsträger der Liberalen eine Gedenkstätte errichtet.

Abb. 3: Eglise Notre-Dame de la Compassion, Kenotaph Ferdinands von Henry de Triqueti (Foto: C. Tauber)

Die Memorialkapelle situiert sich in einem nachrevolutionären, restaurativen Kontext, in einer Hoch-Zeit des Kirchenbaus und der Kirchenausstattung im Zuge der unter den Bourbonen forcierten Rechristianisierung von Paris. Hatte die Französische Revolution ihre „lieux de mémoire“ gut sichtbar im Stadtraum platziert, so zogen sich die restaurativen Erinnerungsorte in sichere sakrale Innenräume zurück. Kunst wurde jetzt zur Sühneleistung für die in der Endphase der Französischen Revolution begangenen Gräueltaten. Ein herausragendes Beispiel hierfür stellt die Chapelle expiatoire dar: Sie wurde an dem Ort erbaut, an dem sich der Friedhof der Madeleine-Kirche befand, auf dem die von der Guillotine auf der Place de la Révolution Enthaupteten in einer Massengrablege verscharrt worden waren, u. a. auch Ludwig XVI. und Marie Antoinette. Jetzt errichtete man hier eine aus der königlichen Schatulle finanzierte und von einer Arkade mit (leeren) Sarkophagen umgebene Kapelle, die von Karl X. 1826 geweiht wurde. Die Massengräber der über 1000 Enthaupteten verblieben als zeitenthobene Insel der Erinnerung im begrünten Innenhof.

Dass der Duc d’Orléans kein Revolutionsmärtyrer war, sondern ganz unheroisch einem banalen Verkehrsunfall zum Opfer fiel, hinderte das einem extremen Legitimationsdruck ausgesetzte französische Königshaus nicht daran, den Begräbnisort zu einem royalistischen „lieu de mémoire“ par excellence auszugestalten. Im Jahr 1842 ausgerechnet im Pariser Straßenverkehr zu sterben, war nicht nur deshalb höchst unwahrscheinlich, weil sich der Unfallort in der ruhigen, begrünten und baumbestandenen Vorstadt befand. Diese war noch nicht haussmannisiert und wurde auch noch nicht von den damals als technische Revolution der Beschleunigung empfundenen Pferdeomnibussen befahren.

Abb. 4: La mort du duc d’Orléans (Elias Regnault, Histoire de huit ans, Bd. 1, Paris 1851)

Im Zuge des modernistischen Neubaus des Palais des Congrès an der Porte Maillot musste die Kapelle 1974 eine Parzelle weiter nördlich transferiert werden. Die heutige Situation am sechsspurigen Péripherique, verloren in der von Boulevardschneisen zerteilten Bebauung, vom Verkehrslärm umtost und nur unter lebensgefährlichen Überquerungen mehrerer Riesenkreuzungen sowie des Boulevard Pershing (!) erreichbar, erschwert eine Pilgerschaft zu diesem royalistischen Erinnerungsort immens. Sie ist aber vielleicht heutzutage nach dem Ende des Zeitalters der Monarchien auch obsolet geworden.

Das war die Pariser Trouvaille Nr. 3, Fortsetzung folgt…

Prof. Dr. CHRISTINE TAUBER ist die verantwortliche Redakteurin der Kunstchronik am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Professorin am Kunsthistorischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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