Theresa Sepp über eine Diplomatensammlung und koloniale Kontexte

Insgesamt sechs freigestellte Schwarzweißzeichnungen von Frauen vor einem zitronengelben Hintergrund. Zwei auf der linken Seite und vier auf der rechten Seite. Die zwei Figuren ganz rechts sind nicht so stark verhüllt, wie die restlichen Frauen.

Im Zentrum der Erforschung des Archivs der Kunsthandlung Julius Böhler steht die Klärung von Provenienzen im Hinblick auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. Doch öffnen sich im Rahmen der Erschließung des Karteiensystems auch Perspektiven auf andere Kontexte der Translokation, des Handels und auch Raubes von Kulturgütern.

Ein Beispiel dafür ist die Sammlung des deutschen Diplomaten Maximilian von Loehr (1861 –1945), der Anfang der 1920er Jahre mindestens 25 Objekte in die Luzerner Partnerfirma der Kunsthandlung Böhler, die Kunsthandel AG, einlieferte. Im Rahmen der Übergabe machte er gegenüber den Mitarbeitenden der Kunsthandlung teils detaillierte Angaben zur Herkunft und zu den Verkaufsumständen der Objekte, die diese auf den Karteikarten festhielten. So dokumentiert zum Beispiel die Karteikarte L_02685 (Abb. 1) nicht nur Informationen zu dem Objekt – einer aus Nashorn geschnitzten tibetanischen Schale –, sondern auch die Geschichte ihres Erwerbs: Der schwedische Generalkonsul Carl Bock (1849 –1932), laut Loehr einer „der wenigen Weissen, der in Lhassa […] gewesen ist“, hatte sie aus der Hauptstadt Tibets nach Shanghai mitgebracht. 1892 verkaufte er sie dort an Loehr. Mit ihm reiste die Schale weiter, bis sie 1921 auf dem Ladentisch der Kunsthandel AG in Luzern landete.

Abb. 1: Karteikarte L_02685, Vorderseite, Quelle: ZI Photothek/Archiv, Archiv Kunsthandlung Julius Böhler, s. http://boehler.zikg.eu/wisski/navigate/248848/view

Wie anderen Karteikarten zu entnehmen ist, brachte Loehr auch von weiteren beruflichen Stationen Objekte mit, 1891 etwa einen japanischen Paravent aus Nagasaki (Karteikarte L_06205). In Ägypten, wo er nach mehreren Stationen in Asien seit Mitte der 1890er Jahre als deutscher Konsul tätig war (s. Elisabeth von Heyking, Tagebücher aus vier Weltteilen, herausgegeben von Grete Litzmann, Leipzig 1926), erwarb er auf dem Kairoer Bazar einen alten Bergama-Teppich (Karteikarte L_03571) und in Gizeh den Torso eines knienden Priesters, dessen Sockel mit Hieroglyphen geschmückt war (Karteikarte L_02667). Letzterer stammte laut Loehr aus dem Museum in Gizeh (Abb. 2).

Abb. 2: Karteikarte L_02667, Vorderseite (Detail), Quelle: ZI Photothek/Archiv, Archiv Kunsthandlung Julius Böhler, s. http://boehler.zikg.eu/wisski/navigate/248757/view

Das bis 1890 in Boulaq befindliche Museum war 1858 zum Zweck der Bewahrung der meistens von Europäer*innen ausgegrabenen und nach Europa verbrachten ägyptischen Kulturgegenständen gegründet worden (s. History of the Egyptian Museum in Cairo, Webseite des Egyptian Museum Cairo, 2022) (Abb. 3). Die Karteikarte von 1920 verrät leider nicht, wie Max von Loehr dennoch eine Plastik aus den Museumsbeständen erwerben und nach Europa bringen konnte.

Abb. 3: Wilhelm Genz, Hof des Antiquitäten-Museums zu Bulak, 1880, in: Georg Ebers, Ägypten in Bild und Wort dargestellt von unseren ersten Künstlern (Band 2), Stuttgart/Leipzig 1880, S. 49, DOI: https://doi.org/10.11588/diglit.4992#0064 (Public Domain Mark 1.0)

Die Problematik dieser Kulturguttransfers unter den Bedingungen des Kolonialismus – Ägypten war damals ein britisches Protektorat – drängt sich aus heutiger Perspektive geradezu auf, war aber, wie das Beispiel der Museumsgründung zeigt, auch schon damals virulent. 1925 etwa wurde die Rückgabe der wohl bekanntesten Plastik aus Ägypten, des 1912 ausgegrabenen und ein Jahr später nach Berlin verbrachten Kopfes der Nofretete, gefordert (Bénédicte Savoy, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Nofretete. Eine deutsch-französische Affäre 1912–1931, Köln u.a. 2011, S. 9).

Die auf den Karteikarten sorgfältig notierten Herkunftsgeschichten der Kulturgüter reflektieren selbstverständlich nicht den Diskurs über asymmetrische Machtverhältnisse und Kulturtransfers im Rahmen des Imperialismus; sie dienten vielmehr der Dokumentation der Authentizität des Objekts und der Weitergabe von Wissen, das wohl im Kontext von Verkaufsangeboten zum Zweck der Preissteigerung eingesetzt wurde. Dennoch zeigt ihr Beispiel, wie sich das Informationspotential eines rein für interne Dokumentationszwecke gedachten Karteiensystems gewandelt hat. Heute gibt dieses nicht nur Aufschluss über Transaktionen, sondern auch über Objekt- und Sammler*innenbiografien, die Entstehung und Auflösung von Sammlungen sowie über Translokationen von Kulturgütern in vielfältigen Kontexten.

Dr. THERESA SEPP ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und Leiterin des Forschungsprojektes „Händler, Sammler und Museen: Die Kunsthandlung Julius Böhler in München, Luzern, Berlin und New York. Erschließung und Dokumentation der gehandelten Kunstwerke 1903 – 1994