Hannah Goetze über Reisen nach Neapel, mit Büchern im Kopf und in der Hand

Blick auf einen Umgang um einen Lichthof. Im Gang stehen zahlreiche Vitrinen mit aufgeschlagenen Büchern. An dem Pfeiler direkt in der Bildmitte ist eine große Tafel mit Bild und Text angebracht.

Zu viele Italienreiseführer, -reisende und -berichte gab es wohl schon immer; schon 1791 gar so viele, dass Thomas Martyn sich beim Verfassen des seinigen zu einer initialen Rechtfertigung gedrängt fühlt, warum es denn eines weiteren überhaupt bedürfe: „It will naturally be asked, why we have more travels into Italy, when we have had too many already?“ (Thomas Martyn: A Tour through Italy. …, London 1791, S. iii).

Begründet wird der Mehrwert von Martyns Reiseführer unter anderem mit der Kompaktheit des Buches (im Gegensatz zum denkbar nicht-kompakten Titel: A Tour through Italy. Containing Full Directions for Travelling in that Interesting Country; with Ample Catalogues of Every Thing that Is Curious in Architecture, Painting, Sculpture, & c. Some Observations on the Natural History, and Very Particular Descriptions of the Four Principal Cities, Rome, Florence, Naples, and Venice, with their Environs). So seien doch ein Großteil der vorhandenen Reisebücher mehr dazu gedacht, sie sich im eigenen Zuhause zu Gemüte zu führen, denn für eine tatsächliche Mitnahme auf die Reise praktikabel – verfolgt würde eher das Ziel „to amuse the indolent, rather than to instruct the active“ (ebd.). Und sonst gelte auch für die, auf die dies nicht zutreffe, im Allgemeinen: „[O]f few whose aim it has been to inform the traveller on the spot, their works have been either very partial and defective, or else too voluminous to be carried about with tolerable convenience“ (ebd.). Die Marktlücke also sucht Martyns Buch zu füllen, das wahrhaftig ein Buch für das Handgepäck sein möchte, „to be carried about with tolerable convenience“, und mit seinen „very particular descriptions“ die Mängel und Lücken anderer Werke zu umgehen sucht.

Der erste spezifisch neapolitanische „Fremdenführer“ ist mit Pompeo Sarnellis Guida de’ Forestieri aus dem Jahre 1685 in zwei verschiedenen Auflagen, von 1688 und 1697, auch in der aktuellen Ausstellung „Neapel und Campania. Bücher und Bilder vom italienischen Paradies“ am ZI präsent.

Abb. 1.: Pompeo Sarnelli: Guida de’ Forestieri, 1685, Ausstellungsansicht (Detail) ©Zentralinstitut für Kunstgeschichte | Foto: Susanne Spieler

Die Vielzahl an Auflagen, bis weit hinein ins 18. Jahrhundert, wie auch die allgemeine Menge an Reiseführern, -briefen und -berichten, von, aus und über die Stadt spricht für die große Bedeutung Neapels als Reiseziel. Die Masse an Bildern und Texten, die Neapel vorauseilten und mit denen im Hinterkopf oder in der Hand die Stadt besucht wurde, war nicht immer zu deren Vorteil. Denn das Verhältnis zwischen beschriebener und erfahrener Stadt ist keineswegs stets deckungsgleich ­– eine Erfahrung, die insbesondere Auguste Creuzé de Lesser machen muss. Desillusioniert äußert er sich in seiner Voyage en Italie et en Sicile: In Italien hätte er beinah überall nur das Gegenteil dessen gefunden, was er über das Land gelesen hätte. Besonders groß ist die Enttäuschung über das Vergil-Grab: „On peut y aller ; mais il vaut encore mieux lire l’Enéide“ (Auguste Creuzé de Lesser: Voyage en Italie et en Sicile, fait en 1801 et 1802, Paris 1806, S. 263). Noch bei Walter Benjamin und Asja Lācis sind es im 1925 gemeinsam verfassten Denkbild „Neapel“ all die Texte und Bilder von malerischen Reisen, unter der die Stadt Neapel verschwindet, die als so malerisch sich nicht herausstellt: „Phantastische Reiseberichte haben die Stadt betuscht. In Wirklichkeit ist sie grau: ein graues Rot oder Ocker, ein graues Weiß. Und ganz grau gegen Himmel und Meer“ (Walter Benjamin und Asja Lacis: „Neapel“, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften IV, 1, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt am Main 1991, S. 307 – 316, hier: S. 309).

Abb. 2: Jacques Marquet de Norvins et al.: Italie Pittoresque, Paris 1834 –1836, Tafel V ©Zentralinstitut für Kunstgeschichte | Foto: Zentralinstitut für Kunstgeschichte

„Encore un ouvrage sur l’Italie!“: So beginnt dann auch die Italie Pittoresque, aus den Jahren 1834-36, ebenfalls in der Ausstellung gezeigt. Der nicht weiter identifizierte Autor F.A., der neben Namen wie Alexandre Dumas und Jacques Marquet de Norvins Aufsätze zu verschiedenen Aspekten und Orten Italiens beiträgt, schreibt im Teil zu Neapel: „Si j’ai une aversion au monde, c’est pour le Guide des Voyageurs“ (Jacques Marquet de Norvins et al.: Italie Pittoresque, Paris 1834 –1836, S. 42). Sein Spott gilt den Leuten, die auf ihrer Reise gänzlich dem Buche folgen, sich nur von ihm durch die Städte leiten lassen, unfähig, eigene Wege einzuschlagen: „Ils partent à l’heure dite, prennent bien la route que leur indique le guide, et les voilà, le nez en l’air et le livre en main, s’arrêtant devant l’arc de triomphe de Constantin ou le Panthéon“ (ebd.). So wandern diese Tourist*innen (insbesondere Engländer*innen machten sich laut dem Autor dessen schuldig) von Gebäude zu Gebäude, wie der Reiseführer es ihnen diktiert, mit stolz erhobener Nase und Buch in der Hand.

Zu Beginn hätte er es ihnen noch gleich getan – „mais bientôt j’eus une telle indigestion d’églises et de colonnes que je jetai le livre au feu, que j’envoyai au diable les guides vivans et imprimés, et que je me lançai dans la ville, seul, au hasard, cherchant, regardant, voyageant comme dans un nouveau monde, interrogeant les passans“ (ebd., 43). Entsprechend anders zu verstehen ist dann auch sein Unterfangen: Die Leser*innen sollten nicht erwarten, von ihm an die Hand genommen und in Neapel von Kirche zu Kirche geführt zu werden, sondern die Stadt kennenlernen wie er: „comme […] l’ame d’un ami, lentement, sans ordre, par éclairs subits, et faisant de cette découverte une conquête à moi et un ravissement“ (ebd.).

Noch bis zum 30. September sind ein Teil der großen Menge an Bildern und Büchern um, von, über und aus Neapel im Zentralinstitut für Kunstgeschichte ausgestellt. Die Auswahl konstituiert selbst eine Reise: durch die Stadt, durch die Bücher, durch die Zeit. Sie zeugt von Wahrnehmung und Rezeption einer der Höhepunkte der Grand Tour, der bis heute beliebtes Tourist*innenziel ist. Dabei veränderten sich die Bilder, die mit der Stadt verknüpft waren, durchaus; Sehnsuchtsort und Imaginationsraum jedoch blieb die Stadt.

HANNAH GOETZE, B.A. ist Studentische Hilfskraft am Zentralinstitut für Kunstgeschichte und war an der Seite von Annalena Brandt, Franz Hefele, Hanna Lehner und Ulrich Pfisterer an Konzeption und Ausarbeitung der Ausstellung „Neapel und Campania. Bücher und Bilder vom italienischen Paradies“ beteiligt. Die Ausstellung kann bis 30. September im Lichthof des ZI besucht werden.