Ulrike Keuper zu den „unschuldigen Betrügereien“ des Bernard Picart

Zwei freigestellte Putti auf Bücherstapel vor zitronengelbem Hintergrund.

Bei Druckgrafik nach Handzeichnungen galt in der Regel alle Aufmerksamkeit den abgebildeten Zeichnungen, während deren Reproduktion selbst und somit die Kunstfertigkeit der Stecher*innen nicht wahrnehmbar sein sollten. Das 1734 postum in Amsterdam erschienene Mappenwerk „Impostures innocentes“ („Unschuldige Betrügereien“ oder: „Täuschungen“) des aus Paris stammenden Radierers Bernard Picart (1673–1733) (Abb. 1) bildet eine bemerkenswerte Ausnahme hiervon. Hinter dem, wie es im Titel weiter heißt, „Recueil d’estampes d’apres divers peintres illustres, tels que Rafael, Le Guide, Carlo Maratti, Le Poussin, Rembrandt, &c.“, verbirgt sich ein raffiniert konstruierter Œuvrekatalog, der vor allem die Lebensleistung Picarts als Zeichner, Reproduktionsstecher und Kenner in den Mittelpunkt rückt – und zugleich eine Apologie des „modernen“ Reproduktionsstichs in Wort und Bild vorlegt.

Abb. 1: Fronzispiz, in: Impostures innocentes, ou Recueil d’estampes d’après divers peintres illustres: tels que Rafael, le guide, Carlo Maratti …, Amsterdam, 1734, (https://doi.org/10.11588/diglit.8001#0006 | Zugriff: 28.2.2023)

Den Bildtafeln vorangestellt ist ein fast die Hälfte des Mappenwerks einnehmender Textapparat: Ein „Avertissement“, das die Genese der Publikation darlegt (Picart hatte darüber verfügt, dass die aus verschiedenen Schaffensphasen stammenden Stiche nach seinem Tod in der vorliegenden Form veröffentlicht würden); eine von Picart 1732 verfasste zehnseitige Verteidigung der modernen Stechkunst („Discours sur les préjugez de certains curieux touchant la gravure“); ein Verzeichnis der Bildtafeln; eine von Picarts Freund und Verleger Prosper Marchand verfasste Biographie („Eloge historique de Bernard Picart, dessinateur et graveur“); sowie ein Werkverzeichnis des 1.300 Blätter umfassenden Œuvres Picarts. Das Herzstück des Mappenwerks bildet ein Korpus von 79 Radierungen, die Picart nach von ihm selbst ausgewählten Kunstwerken aus prominenten französischen und niederländischen Sammlungen gestochen hatte. Der deutlich überwiegende Teil davon, 65 Tafeln, gibt Handzeichnungen wieder, von der Skizze bis zum detailliert durchgearbeiteten Blatt.

Die „Impostures“ verstehen sich als Plädoyer gegen die unter Kennern (etwa Jonathan Richardson) verbreitete Überzeugung, Zeichnungen der Altmeister könnten allein von deren Zeitgenossen adäquat wiedergegeben werden. Dieses Vorurteil widerlegt Picart mit Empirie: So habe er Originalzeichnungen Raffaels einem direkten Vergleich mit zeitgenössischen Stichen unterziehen und den Stechern zahlreiche Freiheiten nachweisen können – was ihn dazu bewogen habe, es „besser zu machen“ und die Zeichnungen neu zu stechen. So etwa jene Venus mit Amor (Tafel Nr. 4), die Picart, anders als ehedem Agostino Veneziano (1490–1540), getreu der Vorlage ohne Hintergrund und Ausschmückungen wiedergibt. Mit diesem Vorgehen desavouierte Picart selbsternannte Kenner, und es passt zudem zu einem Künstler, dem ein Ruf als besonders sorgfältiger, geradezu „wissenschaftlich“ vorgehender Illustrator und Reproduktionsstecher vorauseilte: So soll er für die Tafeln für das Kabinett des Baron von Stosch, „Pierres antiques gravées“ (1724), ein Mikroskop zu Hilfe genommen haben, um den Stil des jeweiligen Steinschneiders so getreu wie möglich wiederzugeben (Eloge, S. 8). Für die meisten Stiche der „Impostures“ hingegen entschied sich Picart, sich nicht mit einer Imitation des Zeichenstils aufzuhalten, sondern sich vielmehr auf den Gehalt zu konzentrieren („mon But a été seulement de rendre les Desseins, & d’en conserver l’Esprit“, Discours, S. 9). Diese Haltung mag jedoch auch in der Technik der Radierung begründet liegen, mit der sich gerade Kohle- oder Kreidezeichnungen sowie lavierte und gehöhte Zeichnungen ohnehin nur begrenzt nachahmen lassen.

Ein besonders interessanter Fall ist die Tafel Nr. 44, „Gravé […] d’après un dessein atribué au Poussin, du Cabinet de B. Picart“ (Abb. 2). Die radierte Skizze gehört in eine Gruppe von Stichen, die Picart – wohl ohne Bildunterschrift – einst auf altem Papier gedruckt hatte, um, inspiriert von Hendrick Goltzius, selbsternannte „Kenner“ an der Nase herum zu führen. Das vorliegende Blatt hätten diese prompt für die originale Federzeichnung gehalten (Discours, S. 5-6). Picart profitierte für sein Täuschungsmanöver davon, dass Skizzen und unvollendete Partien von Zeichnungen seinerzeit kaum abgebildet, sondern in der Reproduktion in der Regel zu vollständigen Kompositionen ausgearbeitet wurden – das Skizzierte, Unvollendete konnte somit als Signum des Originalen figurieren. Wobei, zumal angesichts der Provenienz aus der eigenen Sammlung, offenbleiben muss, ob es die Vorlage überhaupt gegeben hat oder ob der Stich von Picart ähnlich wie bei Goltzius frei in Imitation von Poussins Zeichenstil imaginiert ist (der Kontext legt Letzteres nahe).

Abb. 2: Gravé par B. Picart, d’après un dessein atribué au Poussin, du Cabinet de B. Picart, in: Impostures innocentes, ou Recueil d’estampes d’après divers peintres illustres: tels que Rafael, le guide, Carlo Maratti …, Amsterdam, 1734, (https://doi.org/10.11588/diglit.8001#0080 | Zugriff: 28.2.2023)

Solche leitmotivischen „Unschuldigen Betrügereien“ sollen wohl der „wahren“ Kennerschaft potenzieller Käufer*innen des Mappenwerks schmeicheln, die Picarts „Täuschungsmanöver“ durchschauen und zu goutieren wissen. Die Täuschung ist insofern „unschuldig“, als sie, wie Picarts Anekdote illustrieren soll, allein auf den Getäuschten zurückfällt und dessen Ignoranz zutage fördert. Zugleich setzt das „unschuldig“ ein Signal in Richtung eines Publikums, das Augentäuschung zwar mit Genuss verband, aber auch zunehmend deren Gefahren in Gestalt von Fälschungen vor Augen hatte, die im Verlauf des Jahrhunderts noch weiter an Virulenz gewinnen sollten.

Den Radierungen nach den großen italienischen und französischen Künstlern des 16. und 17. Jahrhunderts lässt Picart selbstbewusst insgesamt zwölf Blätter nach eigenen Zeichnungen folgen, die mit Guido Renis sowie Rembrandts zum Schluss folgenden Zeichnungen den größten monografischen Block des Mappenwerks bilden. Neben zwei Historien „inventées & gravées par B. Picart“ umfasst dieser in erster Linie von ihm selbst gezeichnete und anschließend radierte „Académies“ (Abb. 3), also als Lehrmittel in der künstlerischen Ausbildung entstandene Aktstudien, von denen ein Exemplar im Frontispiz des Recueils (vgl. Abb. 1 ) stellvertretend auf das Werk Picarts und auf seine Rolle als Leiter der Amsterdamer Zeichenschule ab 1730 verweist. Indem er sie im Stich publiziert, behauptet Picart eigenmächtig die Mustergültigkeit seiner Zeichnungen.

Aktstudie, in: Impostures innocentes, ou Recueil d’estampes d’après divers peintres illustres: tels que Rafael, le guide, Carlo Maratti …, Amsterdam, 1734, Tafel 62 (https://doi.org/10.11588/diglit.8001#0080 | Zugriff: 28.2.2023)

Die Komposition des Recueils suggeriert Gleichwertigkeit: Picarts Aktstudien scheinen ebenso abbildungs-(und sammel-)würdig wie Raffaels schönlinige Zeichnungen und Rembrandts kraftvolle Helldunkel-Skizzen. Picart sah sich offenbar nicht nur auf Augenhöhe mit den Altmeistern, sondern auch mit den großen Sammlern und Kennern seiner Zeit: Sechzehn der reproduzierten Altmeisterzeichnungen sowie ein Gemälde stammen, wie die Bildunterschriften nicht verhehlen, aus der eigenen Sammlung des Künstlers – was diese auf die Höhe illustrer Kabinette wie jene Pierre Crozats oder des französischen Königs hievt.

Die „Impostures innocentes“ sind ein höchst originelles Projekt der Eigenhistorisierung eines Künstlers, der sich von Beginn an als Chronist seiner selbst betätigte. Der Umstand, dass Picarts eigene Zeichnungen und sogar Probedrucke bereits zu Lebzeiten hohe – Edmé-François Gersaint zufolge: exzessive – Preise erreichten, sowie der publizistische Erfolg der „Impostures“ verweisen darauf, dass sich ein eigener Personenkult um den Kupferstecher gebildet hatte, den Picart selbst geschickt befeuerte und schließlich mit den „Impostures“ in die Nachwelt zu verlängern versuchte.

Dr. ULRIKE KEUPER ist Kunsthistorikerin und hat gemeinsam mit Dr. Stephan Brakensiek die Ausstellung „Unschuldige Betrügereien. Reproduktionsgrafik nach Handzeichnungen“ kuratiert, die im Zentralinstitut für Kunstgeschichte (15.2.–31.3.2023) sowie in der Universitätsbibliothek Trier (1.6.–31.7.2023) zu sehen ist. Zur Ausstellung ist ein gleichnamiger Katalog ( >> kubikat) erschienen.

Unschuldige Betrügereien

Reproduktionsgrafik nach Handzeichnungen

www.zikg.eu

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