Ein Riss geht durch die Fassade des Palazzo Strozzi. Ein Spalt öffnet sich in der Haut des Gebäudes und deutet qua optischer Illusion Einblick in dessen Innenwelt an. Bei dieser Schnittverletzung, die seit Mitte März 2021 das Antlitz des Florentiner Renaissancepalastes ziert, handelt es sich um die jüngste autorisierte Installation des Streetart-Künstlers JR (Juste Ridicule).
📍 @palazzostrozzi 🇮🇹 pic.twitter.com/yiQ7LRHemD
— JR (@JRart) March 19, 2021
Der Franzose JR arbeitet bereits seit Längerem mit weltbekannten Museen und Kunstinstitutionen zusammen und hat etwa Ieoh Ming Pei’s Glaspyramide im Innenhof des Musée du Louvre mittels monumentaler schwarz-weißer Fotocollagen erst illusionistisch verschwinden lassen (La Pyramide, 2016), um sie später anamorphotisch zu erweitern (Le Secret de la Grande Pyramide, 2019).
Nun also spaltet JR die harmonischen Proportionen eines Florentiner Stadtpalastes. Das neueste Werk trägt den bedeutungsschwangeren Titel La Ferita, zu Deutsch Die Wunde, und möchte eine Debatte über die Zugänglichkeit von Kultur im Zeitalter von Covid-19 auslösen – eine solche Interpretation lässt zumindest die Website der Fondazione Palazzo Strozzi verlauten. Besagte Stiftung, welche die Räumlichkeiten des Palazzo Strozzi seit 2007 mit Wechselausstellungen bespielt, (v)erklärt diesen somit zum Pars pro toto für die Vielzahl an weltweiten Kunst- und Kulturindustrien, die durch die anhaltenden Schließungen von Museen, Ausstellungshäusern, Bibliotheken usw. erschüttert worden sind und weiterhin werden. In diesem Sinne, so scheint es, poetisiert JR die von der globalen Gesundheitskrise ausgelöste Krise der Kunst- und Kulturwirtschaft symbolisch zu einer seismischen Katastrophe. Eine Katastrophe, die die äußere Kruste des Kunstpalastes aufbricht und dabei vermeintlich Einblick in den Aufbau der Florentiner Kunstinnenwelt zulässt. Als monumentales Trompe-l’Œil konzipiert, erlaubt es die Fotocollage auf 28 x 33 Metern von gewissem Standpunkt aus, drei hinter der Palastfassade liegende Geschosse in perspektivischer Korrektheit wahrzunehmen. Drei Räumlichkeiten treten schwarz-weiß entrückt in Erscheinung: die Kolonnade im Innenhof des Palazzo Strozzi, darüber ein imaginärer Ausstellungssaal sowie die Bibliothek des Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento im Piano nobile. Demnach verweisen nur Erdgeschoss und Belletage auf ortsspezifische Räumlichkeiten, die den realen Begebenheiten des Palazzo entsprechen. Der dazwischen befindliche Ausstellungsraum hingegen geriert sich als florentinisches „Musée imaginaire“, in dem ein virtuelles Ensemble ikonischer Kunstwerke der Stadt zur Anschauung gebracht wird. Zu sehen sind Sandro Botticellis Primavera und Geburt der Venus, und zwar in Art ihrer Hängung ante 2016, d.h. von vor der Renovierung des sog. Botticelli-Saals in den Uffizien und somit ohne die aktuelle in die Wand eingesetzte Rahmung. JR hat hier für seine neueste Collage wohl auf ältere Fotografien zurückgegriffen. Den beiden Gemälden hinzu gesellt sich Giambolognas Skulptur Raub der Sabinerinnen, deren werkeigene Dramatik durch den zusätzlichen Schattenwurf bildintern noch einmal verdoppelt wird.
Spätestens an dieser Stelle drängt sich jedoch die Frage nach der Auswahl der Kunstwerke auf, die Eingang in JRs imaginären Ausstellungsraum gefunden haben. Diese sollen – zumindest laut Werbetext der Fondazione Palazzo Strozzi – im Rahmen der Installation als Repräsentanten des erweiterten Florentiner Kulturerbes auftreten, dessen pandemiebedingte Unzugänglichkeit La Ferita dramatisch beklagt. Nun ist die originale Skulptur Giambolognas in der Loggia dei Lanzi doch eigentlich äußerst prominent aufgestellt und im öffentlichen Stadtraum also auch selbst ähnlich präsent wie JRs nur wenige hundert Meter entfernte Installation. Verhilft La Ferita den genannten Werken qua Verweis also zu mehr Sichtbarkeit? Oder werden sie mittels Illusion lediglich dem Palazzo Strozzi einverleibt und virtuell eingeschlossen?
Das Ganze ist letztlich ein rhetorisches Spiel mit der spektakulären Kraft des Erhabenen. Wunde zeigen, heißt auf sich selbst verweisen, und ein kultureller Stillstand löst kein Erdbeben aus. Zumindest gerät nicht die Kunst selbst ins Rutschen, nur das Selbstverständnis der kulturellen Institutionen wackelt. JRs stimmungssteigernde Öffnung und Neuinterpretation der Palastfassade als menschenentleerte künstliche Ruine und die ästhetische Entrückung der gezeigten Werke ins Schwarz-Weiße dienen letztlich einer romantischen Verklärung des Museums und weiterer Kulturinstitutionen. Gedanken an die Vergänglichkeit des Menschen und seiner Werke werden evoziert und die Stätten der Kultur hierdurch in nostalgischer Rückschau implizit als elysische Orte definiert, an denen einst Synergien zwischen Menschen und Kunstwerken entstehen konnten, und wo beiden erst im Zusammentreffen Farbe und darin Leben eingehaucht wurde.
All die spektakuläre Theatralik von JRs Illusionskunst kann dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim Palazzo Strozzi eben nicht um ein Museum mit den klassischen Aufgaben des Sammelns, Bewahrens, Vermittelns und Erforschens von Kunstwerken handelt, sondern vordergründig um ein temporäres Ausstellungshaus ohne eigene Sammlung, das vor allem vom Kulturtourismus lebt. Hängen an der Palastfassade also meist nur Werbebanner für die jeweils aktuelle Schau, werden derzeit Kulturgüter an die Stirnwand projiziert und ins Gebäude hinein imaginiert, die sich derart so nicht finden lassen und – die Auswahl des Gezeigten betreffend – dies wohl auch nie werden.
Wenn sich Pathos jedoch erst einstellt, wenn das Leiden bereits verwunden ist, schmerzt Die Wunde am Palast der Kunst dann überhaupt noch oder wird hier gar ein Abschied inszeniert?
Die zukünftigen Narben werden es zeigen.
Dr. HENRY KAAP ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für allgemeine Kunstgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Kunst Italiens der Ludwig-Maximilians-Universität München.
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Beitragsbild: JR, La ferita, 2021 (Arenavittorio, La ferita di J R riflessione sull’accessibilità ai luoghi della cultura nell’epoca del Covid-19, Detail, CC BY-SA 4.0)
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