Michael Falser zu globalen Räumen des deutschen Kolonialismus. Begriffe und Methoden – Case-Studies – disziplinäre Querverbindungen

Ein Ausschnitt einer Weltkarte. Zu sehen sind der Indische Ozean sowie Teile Afrikas und Ozeaniens. Einige Gebiete sind rot markiert.

Mit den 1880er Jahren stieg das Deutsche Reich neben Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden zur viertgrößten Kolonialmacht auf. Spezifikum des Deutschen Kolonialismus war, dass er mit Kolonien bzw. Schutzgebieten in Afrika (Deutsch Ost- bzw. Südwestafrika, Kamerun, Togo), Ostasien/China (Tsingtau-Kiautschou) bis Ozeanien (Neuguinea, Kaiser-Wilhelmsland, Marianen, Karolinen, Marshall-Inseln bis Samoa) geopolitisch ein globales Projekt war (Abb. 1), wie es die Karte aus Meyers Konversationslexikon von 1900/1 im Artikel „Kolonien“ einem breiteren Publikum „im Größenvergleich zum Mutterlande“ vor Augen führte.

Trotz kurzer Dauer von nur ca. 30 Jahren (1884–1914) und seiner extremen Heterogenität der sozio-kulturellen und geophysisch-klimatischen Parameter auf drei Kontinenten, brachte der deutsche Kolonialismus eine ungeheure Durchdringung des globalen Raumes mit sich, die sich neben militärischen und ökonomischen, institutionellen wie wissenschaftlichen Bezugsfeldern auch in kolonialen Kunst- und Sammlungsgeschichte(n) und in erster Linie in der umfangreichen, deutsch-kolonialen Architekturproduktion niederschlug, die mit ihren materiellen Hinterlassenschaften von Einzelbauten bis zu ganzen Städten und Kulturlandschaften weltweit bis heute sichtbar geblieben ist.

Die „Globalen Räume des deutschen Kolonialismus“ zu durchschreiten, heißt, die thematischen wie disziplinären Querverbindungen innerhalb dieses spannungsgeladenen Untersuchungsfeldes auszuloten. Die Grundidee des soeben erschienenen Themenheftes der Kunstchronik (Abb. 2; Heft 7 / Juli 2021) ist, dass die Autor*innen mehrheitlich gerade nicht aus der klassischen Kunst- und Architekturgeschichte stammen, sondern mit den Methoden und Fallbeispielen ihrer jeweiligen Kerndisziplinen die konzeptionellen Ränder einer kritischen und global verorteten Kunst- und Architekturgeschichte des Deutschen Kolonialismus ausleuchten.

Abb. 2 Cover des Themenheftes. Coverabbildung: Michel Tuffery, Kamm The Court House, Apia, Samoa. Rimu-Holz, 36,8 x 14,7 cm. München, Museum Fünf Kontinente, Inv.-Nr. 14-337 750 (Foto: Marietta Weidner, Museum Fünf Kontinente, München)

Das Spektrum der Disziplinen ist bewusst breit gewählt: Es reicht von Ethnografie und kuratorischer Praxis, Koloniallinguistik und Sprachpolitik, Religions- und Missionsgeschichte, Infrastrukturgeschichte, Globalgeschichte bzw. New Imperial History, Museumskunde und Provenienzforschung bis zu Globaler Architekturgeschichte und den Cultural Heritage Studies. Am 20.10.2021 hält der Verfasser dieses Beitrags einen Vortrag am Zentralinstitut zu diesem Themenkomplex.

Die Leser*innen dieses Themenheftes erwarten Einblicke in aufschlussreiche Fallbeispiele und unerwartete Fragestellungen: Wie lassen sich kolonialzeitliche Völkerschauen und Ethnographika-Händler mit ihren verschiedenen materiellen Hinterlassenschaften (Artefakte, Requisiten, Geschenke) in ehemaligen Völkerkundemuseen im Austausch mit den sog. Ursprungsgesellschaften thematisieren (Hilke Thode-Arora)? Wie erforscht man heute die verschiedenen Sprachpolitiken und Sprachstile der ehem. deutschen Kolonialgebiete (z. B. die kuriosen Sprachvarietäten von Unserdeutsch/Rabaul Creole German oder Tok Pisin)? Lassen sich konzeptionelle Querverbindungen zwischen lokalen „Sprachformen“ und den vor Ort eingesetzten, ebenfalls hybridisierten „Formensprachen“ von Kolonialarchitekturen ziehen (Doris Stolberg)? Wie korrelierten deutsch-koloniale Missionstätigkeiten in China mit dem im Deutschen Reich zeitgleich zirkulierenden PR-Material, und wie lassen sich die kolportierten Bildwelten von in Fernost zunehmend lokal integrierten Missionaren und Missionsstationen als eine Art Akkulturations- qua Kunstgeschichte konfigurieren (Judith Becker)? Oder das Thema Infrastrukturplanung (Dirk van Laak): Wie schreibt man in diesem Bereich Globalgeschichte und wie können diese vermeintlich rein technisch-logistischen Netzwerke (Telegrafenverbindungen, Bahnstrecken, Straßen, Häfen) auch als Medien kolonialer Bedeutungsproduktion gelesen werden, die bis heute weitergenutzt und als großmaßstäbliches Kulturerbe zur Disposition stehen? Waren koloniale Stadtplanungen tatsächlich „lebende Laboratorien“, in denen rassistisch motivierte Hygiene-Standards in konkrete sozialräumliche Segregation überführt wurden? Gelingt es uns heute, die damals inter-imperialen Austauschprozesse von Herrschafts- und Planungswissen jenseits der klassischen Erklärungsmuster von Zentrum-Peripherie-Transfers als globalgeschichtliche Prozesse zu verstehen (Ulrike Lindner)? Wie gelingt ein methodisch neuartiger Forschungsansatz, deutsch-koloniale Architektur von Windhuk bis Tsingtau und Samoa einerseits verschränkt als eine Globale Architekturgeschichte über drei Kontinente historisch zu fassen und andererseits aus unserer zeitgenossenschaftlichen Perspektive heraus als transkulturelle Erbe-Formation zu verstehen (Abb. 3), die vor Ort permanent fort- bzw. umgeschrieben wird (Michael Falser)?

Abb. 3 Rekonstruierter, ehem. deutsch-kolonialer Bahnhof in Tsingtau, heute Qingdao/China (Foto: Michael Falser 2018)

Und last, but not least: Restitutionsforderungen von kolonialzeitlichen Sammlungsbeständen von ehem. Völkerkundemuseen sind heute in aller Munde, doch wie können Nachforschungen über Objektbiografien Auskunft geben über den wahrhaft globalen Raum, der sich nicht nur über die Translokation von den Artefakten selbst, sondern auch über die daran beteiligen (nach)kolonialzeitlichen Akteuer*innen aufgespannt hat (Susanne Knödel und Jamie Dau)?

Dr. MICHAEL FALSER ist Guest-Editor des Themenheftes, DFG-Heisenberg-Fellow an der TU München und Leiter des Forschungsprojekts zur Deutschen Kolonialarchitektur .