PHILIP URSPRUNG
Zum ersten Mal hörte ich in den 1980er Jahren vom Zentralinstitut für Kunstgeschichte. Ich studierte damals Kunstgeschichte in Genf. In München, so schwärmte einer unserer Professoren, befände sich quasi die Zentralbank unserer Disziplin. Dort würde am ambitioniertesten Lexikon des Fachs gearbeitet, dort erschiene die Kunstchronik und vor allem, dort stünde eine riesige Bibliothek, in der einfach alles zu finden sei, was im Bereich der Kunstgeschichte erschienen war. „Alles?“ „Alles!“
Während ich auf meinem harten, protestantischen Holzschemel im stickigen Lesesaal der im Keller gelegenen Seminarbibliothek in vergilbten Bänden für die Zwischenprüfung büffelte und Formulare für Fotokopieraufträge ausfüllte, die zwei Wochen in Anspruch nahmen, führten mich meine Tagträume nach München. Ich stellte mir das Zentralinstitut als eine Mischung von Neuschwanstein und BMW vor, eine opulente und moderne Maschine des Wissens. Ich malte mir aus, wie ich dort dereinst in eleganten Freischwingern studieren würde. Rohrpostanlagen würden die neusten Fachzeitschriften ausspuckten. Und neben dem lichtdurchfluteten Lesesaal würde ein Apparatepark von Fotokopierern und Mikrofilmlesegeräten funkeln.
Natürlich erschrak ich ein wenig, als ich Mitte der 1980er Jahre zum ersten Mal vor dem Zentralinstitut stand. Die finstere Architektur des früheren Verwaltungsbaus der NSDAP passte nicht zum Bild, das ich mir gemacht hatte. Und bis heute bin ich die Schwellenangst nie ganz losgeworden, wenn ich mich dem wuchtigen Gebäude nähere. Werde ich das schwere Tor öffnen können? Wird mich der Pförtner passieren lassen? Soll ich die rechte oder linke Treppe nehmen? Werde ich das richtige Büro finden?
Einmal angekommen, verändert sich die Atmosphäre aber jeweils im Handumdrehen. Der Empfang ist herzlich. Die Türen öffnen sich. Man fühlt sich sogleich willkommen. Alle, die hier sind, teilen dieselbe Begeisterung für die Kunstgeschichte, die Liebe für Bücher, und die Offenheit für Geschichte. Die veränderte Nutzung hat auch den Eindruck der Architektur des Gebäudes verwandelt. Von dem einstigen Symbol der Kontrolle und Unterdrückung wird sie zu einem schützenden Rahmen von etwas ganz Kostbaren, der akademischen Freiheit.
Gerade die Tatsache, dass die Zeit des Nationalsozialismus in vielen Oberflächen, Türbeschlägen und Treppengeländern noch immer präsent ist, ermahnt alle, die sich in diesen Räumen bewegen, sich kritisch mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Die Vergangenheit ist latent spürbar und mit ihr die Aufforderung, die Zugänge zur Geschichte offenzuhalten. Im autoritären Begriff „Zentralinstitut“ klingt nach wie vor der „Central Collecting Point“ nach, wo die US-Militärregierung nach dem Zweiten Weltkrieg die gestohlenen Kunstwerke zusammenführte. Und die heutige Vorreiterrolle des ZI im Bereich der Provenienzforschung erinnert an die politische Verantwortung, welche die Institution im Rahmen der „Re-Education“ übernahm.
Die Singularität des ZI fußt auf einer Reihe von inneren Widersprüchen. Es ist eine bayerische Institution, die aber ohne den Impuls der US-Amerikaner nicht ins Leben gerufen worden wäre. Es ist ein Ort der Dokumentation und Archivierung und zugleich ein Ort der Diskussion und des Experiments. Es ist unabhängig von den Universitäten und zugleich undenkbar ohne diese. Es ist, im Unterschied zu den beiden anderen deutschen außeruniversitären kunsthistorischen Instituten, eine späte Gründung und doch inzwischen 75jährig. Statisch und dynamisch, alt und jung, regional und kosmopolitisch, konservativ und progressiv zugleich ist das ZI ein Ort, wo Spannungen ungelöst sind und für die kunsthistorische Forschung produktiv gemacht werden können.
Als mich Wolf Tegethoff vor zehn Jahren einlud, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats zu werden, zögerte ich deshalb nicht zuzusagen. In diese Zeit fiel die strukturelle Verbindung mit der Ludwig-Maximilians-Universität. Tegethoff hat diesen Transformationsprozess angestoßen und unter Ulrich Pfisterer ist er mit Erfolg umgesetzt worden. Dass dieser Prozess so erfolgreich verlief, lag auch der vorübergehenden gemeinsamen Führungsfunktion von Tegethoff und Pfisterer.
Das ZI zeugt davon, wie produktiv die Verbindungen von forschungspolitischen, administrativen und wissenschaftlichen Praktiken sind. Ich glaube zwar an die Arbeitsteilung, aber ich bin gegen die Spezialisierung und säuberliche Trennung von Funktionen. Wir müssen als Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker zwar in der Lage sein, auf Machbarkeit und Mehrheitsfähigkeit zu achten und Kompromisse machen zu können. Aber noch mehr sollten wir als Forscherinnen und Forscher im Sinne des Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend auch anarchisch agieren und unser kostbarstes Gut, die akademische Freiheit, wirklich nutzen.
So gesehen, ist das ZI einerseits eine Bastion der akademischen Freiheit. Es ist aber ebenso, dank der Menschen, die hier arbeiten, ein- und ausgehen, lehren, lernen und verwalten, die träumen, hier zu sein, die sich für ein Stipendium bewerben oder auch nur kurz herkommen für ein Buch oder einen Vortrag, einer der Motoren dieser akademischen Freiheit. Eine solche Institution ist keineswegs selbstverständlich. Sie ist, bei aller Stärke, auch fragil. Sie bedarf des langen Atems, der „Longue Durée“. 75 Jahre ist lang und kurz zugleich. Tragen wir dem ZI weiterhin Sorge!
Prof. Dr. PHILIP URSPRUNG, Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich, ist seit 2013 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Zentralinstituts für Kunstgeschichte. 2017 erhielt er vom schweizerischen Bundesamt für Kultur den Prix Meret Oppenheim.
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